Die Presse am Sonntag

Der gefühlte Ausnahmezu­stand

Es gibt etwas, was Amoklauf und Terroransc­hlag eint: Ihre Macht liegt in der Resonanz. Gerade deshalb sollte man den Tätern nicht geben, was sie wollen: eine Überhöhung ins Monströse.

- LEITARTIKE­L VON ULRIKE WEISER

Apocalypse Now. Ist 2016 das schlimmste Jahr des 21. Jahrhunder­ts?“Solche Titel las man zuletzt öfter. Nicht im Boulevard, sondern in der „Zeit“, im „Spiegel“. Die Verdichtun­g der Ereignisse – Attentat, Putschvers­uch, Attentat, Amoklauf – verstärkt anscheinen­d sehr breit das blöde Gefühl, dass die Welt bis auf Weiteres nicht mehr zur Ruhe kommt.

Die Nachricht vom angebliche­n Terror in München passte da perfekt ins Bild. Konnte es Zufall sein, dass kurz nach Nizza, nur wenige Tage nach dem IS-inspiriert­en Axtanschla­g in Würzburg wieder ein junger Mann zur Waffe greift? Die Antwort ist simpel und komplizier­t zugleich. Zunächst: Ja, natürlich ist es Zufall. Es gibt wohl kein Terror-Motiv, die Tat des offenbar psychisch kranken Teenagers erinnert vielmehr an Amokläufe an Schulen. Und auch wenn es zuletzt schwierige­r wurde, scharf zwischen Anschlag und Amoklauf zu trennen, weil der IS labile Menschen anlockt und zudem Bluttaten großzügig für sich reklamiert, war es diesmal anders. Und anders sind daher die Folgen Daran ändert nichts, dass die Islamisten die Tat unge- beten lobten. Und doch eint Nizza, Würzburg, München etwas, denn Terror und Amok haben etwas gemein: Ihre Macht ist die Resonanz. Die Täter antizipier­en den auf allen Kanälen multiplizi­erten Schock der Gesellscha­ft. Auch der Amokläufer von München hat offenbar genau darüber nachgedach­t. Bei ihm fand man das Buch „Amok im Kopf: Warum Schüler töten“. Psychiater empfehlen deshalb, Amokläufer­n nicht zu geben, was sie wollen: posthume Aufmerksam­keit mit Porträtfot­os auf der Titelseite (auch weil Studien zufolge die Hälfte Nachahmung­stäter sind).

Nun müssen Medien informiere­n, aber wir müssen die Täter nicht größer machen, als sie sind. Weder Attentäter noch Amokläufer verdienen den pervertier­ten Gloriensch­ein des Monströsen. Stattdesse­n sind ihre Taten leider oft allzu menschlich: feig und hinterhält­ig. Da Worte hier so wichtig sind, war es gut, dass die deutsche Politik nach München besonnen reagierte (sieht man von Tweets wie dem des AfD-Sprechers ab, der die Tat in einen Wahlaufruf umdeutete). Die Zurückhalt­ung tut auch deshalb gut, weil sie aus der grassieren­den politische­n Verbalradi­kalisie- rung herausstic­ht. Zwar sind nicht alle so extrem wie jener US-republikan­ische Landtagsab­geordnete, der beim Parteitag die Erschießun­g von Hillary Clinton gefordert hat. Aber die Lust an der Grenzübers­chreitung ist auch in Europa spürbar. Gerade in Zeiten wie diesen ist es oft fast ein Wettbewerb: Wer hat den härteren, radikalere­n Sager? Kontrollve­rlust. Nun kann man verstehen, dass der langjährig­e Gebrauch blutleerer politische­r Standardfo­rmeln den Wunsch nach mehr Kanten gebiert. Doch das Rüpelverha­lten ist nicht die Antwort, sondern zeugt vielmehr von einem Öl-ins-Feuer-Kontrollve­rlust, der über den der Manieren hinausgeht. „Because it’s 2016“, „weil es das Jahr 2016 ist“, lautet die von Kanadas Premier, Justin Trudeau, geprägte Formel zur Begründung für gesellscha­ftspolitis­chen Fortschrit­t. Man muss aufpassen, dass sie nicht zur Rechtferti­gung für den Verlust von Zivilität verkommt – weil ein gefühlter Ausnahmezu­stand irgendwie alles zu erlauben scheint.

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