Die Angst sitzt allen noch in den Knochen
München am Tag nach dem Amoklauf: Die Stadt wacht nur mühsam aus dem Albtraum auf.
Trüb und schleppend beginnt der Morgen danach in München. Ungewöhnliche Stille liegt über der Stadt. Die Polizei hat nicht nur das riesige Olympia-Einkaufszentrum, sondern den gesamten Industrie- und Shoppingkomplex im Norden der Stadt weiträumig abgeriegelt; die U-Bahn fährt hier ohne Halt durch, Busse und Straßenbahnen sind umgeleitet. Allein oder in kleinen Gruppen kommen Menschen vorbei, Familien mit kleinen Kindern, um Blumen abzulegen. Sie irren herum, sie suchen geeignete Plätze, aber der Ort des Massakers selbst ist unzugänglich, und so liegen die Rosen, die Nelken, die Gerbera schier überall. Einen Mann lässt die Polizei kurz hinter das Absperrband. Rote Rosen hat er dabei und ein groß ausgedrucktes Porträtfoto. Er weint.
Die Nacht des Chaos, der Angst, der öffentlichen Hysterie ist erst seit wenigen Stunden vorbei. So etwas steckt man nicht weg, es sitzt in den Knochen. Besonders bei jenen Tausenden, die an diesem Schreckensabend nicht mehr nach Hause kamen, die Unterschlupf bei fremden Mitbürgern in Anspruch nehmen mussten, weil der gesamte Nahverkehr blockiert war und die Polizei bis Mitternacht dringend riet, sich nicht auf öffentlichen Straßen sehen zu lassen.
Zwischen zwei und drei Uhr früh haben die Behörden den Alarm abgeblasen. Es habe sich, beruhigt Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä, definitiv um die Attacke eines Einzeltä- ters gehandelt, des 18-jährigen DeutschIraners Ali David S. Am Samstag Vormittag liefern Andrä und die Ermittler Details nach – in einer zweiten Stufe der Entwarnung: „Keinerlei Anhaltspunkte“, versichert Andrä, gebe es für Verbindungen des Täters zur Terrorgruppe Islamischer Staat. Außerdem hätten „Tat und Täter zum Thema Flüchtlinge überhaupt keinen Bezug.“Damit stellt sich das Massaker in München gänzlich anders dar als das Axtattentat eines 17-jährigen afghanischen Flüchtlings im Regionalzug bei Würzburg.
Es gibt ein zunächst rätselhaftes Video. Auf dem Parkdeck des Einkaufs- zentrums liefern sich der Attentäter und ein Anwohner ein Schreiduell, nachdem Ali David S. schon mehrere Menschen im McDonald’s erschossen hat. „Was machst du denn für einen Scheiß?“, brüllt der Anwohner, „ein Wichser bist du!“S. schreit zurück: „Ich bin Deutscher, ich bin geboren in dieser Hartz-IV-Gegend hier. Ich war in stationärer Behandlung!“
Warum aber wurde bis nachts um zwei die höchste Gefährdungsstufe aufrechterhalten, die akute Terrorlage, wenn der Attentäter sich doch bereits um 20.30 Uhr mit einem Kopfschuss selbst gerichtet hatte? Warum verfügte