Die Presse am Sonntag

»Wir dürfen uns hier nicht bekriegen«

Der ORF-Journalist Serdar Erdost hat nun den vierten Putsch(-versuch) miterlebt. Bei zweien war er in der Türkei, vor dem dritten im Jahr 1980 flüchtete er nach Österreich. Ein Teil seiner Familie überlebte nicht.

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Serdar Erdost hat Dej´a-`vus. Wenn er hört, dass in der Türkei Zehntausen­de entlassen werden. Wenn er sieht, mit welcher Brutalität die Polizei gegen Regierungs­kritiker vorgeht. Wenn er liest, dass die Intellektu­ellen des Landes nun verhaftet und verfolgt werden. Und er weiß, dass Tausende aus Angst vor der Polizei nicht mehr schlafen.

Denn was in der Türkei gerade passiert, das erlebt er nicht zum ersten, sondern zum vierten Mal. Er war fünf Jahre alt, als das Militär am 27. Mai 1960 gegen Adnan Menderes putschte. „Ich kann mich an die dumpfe, gelbe Beleuchtun­g und die Stimmung auf der Straße erinnern“, sagt er. Und an die Freude, als sein Onkel Muzaffar in der gleichen Nacht aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er war im Vorfeld wegen regierungs­kritischer Publikatio­nen verhaftet worden. Als er 16 war, stürzte das Militär 1971 abermals die Regierung. Diesmal freute er sich nicht: Denn jener Onkel, der Gründer eines linken Verlags war, musste wieder ins Gefäng- nis. Seine Agenden übernahm ein anderer Onkel, Ilhan. Serdar Erdost fing an, bei ihm zu arbeiten, verbreitet­e als Student politische Schriften, gründete eine Druckerei. Inzwischen wurde die gesellscha­ftliche Kluft in der Türkei größer – das Land spaltete sich in links und rechts. Als der Konflikt auf der Straße angekommen war, wurden täglich Menschen verschlepp­t, verletzt und ermordet. An den Universitä­ten und in den Fabriken gab es Streiks. „Das hatte weder politisch noch wirtschaft­lich irgendetwa­s mit Rechtsstaa­tlichkeit zu tun“, sagt Erdost, der darum Ende 1977 nach Österreich flüchtete.

Während Erdost in Wien Philosophi­e und Politik studierte, putschte sich am 12. September 1980 wieder das Militär an die Macht, und wieder mussten zwei Onkel ins Gefängnis. Ilhan kehrte diesmal nicht zurück. „Nachdem sie ihnen die Haare abgeschore­n hatten, wurden sie in einen Lkw geladen und während der Fahrt auf

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