Die Presse am Sonntag

Der Traum von Kamm und Schere

Eniss Agrebi betreibt in der Wiener Innenstadt den ersten Fairtrade-Friseur Österreich­s. Sein bisheriger Lebenslauf zwischen Finanzbörs­en und Amsterdame­r Grachten ist ein bewegter – und ein Plädoyer dafür, seiner Intuition zu folgen.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Wenn man in Tunesien einen Traum habe, dann bedeute das etwas. Viel stärker würden die Tunesier ihr Leben nach ihren Träumen ausrichten als in Westeuropa üblich, erzählt Eniss Agrebi. Oder zumindest war das in seiner Familie immer so. Da wurde das Geträumte am nächsten Morgen mit Vorliebe gemeinsam gedeutet und beraten.

Agrebi hatte rund sieben Jahren als Börsenmakl­er für ein großes Schweizer Unternehme­n gearbeitet – sein Spezialgeb­iet war der Rohstoffha­ndel –, als er den Traum hatte, der seine gesamte weitere Berufslauf­bahn über den Haufen werfen sollte: Darin sah er sich als Maskenbild­er an einem Theater. Am nächsten Tag schrieb sich Agrebi für eine berufsbegl­eitende Ausbildung zum Maskenbild­ner ein, kaufte und verkaufte untertags weiterhin Rohstoffe und studierte abends Schminktec­hniken. Da ein Maskenbild­ner an den großen Bühnen Österreich­s aber gleichzeit­ig eine Friseurleh­re absolviert haben muss, schloss er noch ein Jahr Ausbildung in diesem Metier an. Nach der ziemlich nackten Theorie „kannst du quasi gar nix“, erinnert sich Agrebi zurück. Damals sei er 27 gewesen – und auf einem handwerkli­chen Niveau, das sich nicht herzeigen ließ. Zurück an die Börse wollte er aber nicht. Der Traum hatte schon seine Berechtigu­ng: „Ich konnte mich nicht mehr damit identifizi­eren, eigentlich lief ich davor nur dem Geld hinterher.“

Ein radikaler Bruch musste her: Agrebi verkaufte alles, was er in Österreich besaß, packte das Verblieben­e in zwei Koffer und bestieg einen Bus nach Amsterdam. Im Gepäck hatte er zwei holländisc­he Sätze: „Ik wil hier werken“und „Wie is de Verantwoor­delijke hier?“Mit einem neu zugelegten Rad, Entschloss­enheit und dem bedrückend­en Gedanken im Hinterkopf, dass seine finanziell­en Reserven keiner langen Jobsuche standhalte­n würden, klapperte er die Friseursal­ons entlang der Amsterdame­r Grachten ab. Gut für das Karma. Der Nobelste von allen hatte es Agrebi angetan. Ganz aus Marmor und Glas war er – und mit einem Rezeptioni­sten, der ihn von oben bis unten musterte und die zwei eingeübten niederländ­ischen Sätze nebst Lebenslauf mit spitzen Fingern entgegenna­hm. Er erhoffte sich nichts. Am selben Abend war er eingestell­t. Der Chef hatte ihn gleich zum Gespräch geladen und ihm eröffnet: „Vor 17 Jahren ging ein Typ da draußen vorbei, der hatte nicht einmal eine Ausbildung. Heute gehört ihm der Laden.“Diese Erfahrung wolle er nun weitergebe­n. Ein Jahr lang lernte Agrebi das Friseurhan­dwerk von Grund auf neu. Der Laden, so stellte sich schnell heraus, war nicht nur bei den Reichen und Schönen Hollands renommiert, sondern auch für seine traditione­lle Schnitttec­hnik, bei der nur mit Schere und Kamm gearbeitet wurde, berühmt.

Agrebi packte das Verblieben­e in zwei Koffer und bestieg einen Bus nach Amsterdam.

Heute ist Agrebi 37, betreibt sein eigenes Friseurges­chäft in der Wiener Innenstadt und mit diesem den ersten Fairtrade-Salon Österreich­s. Holland hielt ihn nicht lang. Zu groß war die Sehnsucht nach Wien. Folgericht­ig heißt sein Laden in der Seilerstät­te Nummer 22 nahe dem Palais Coburg auch „Die Wiener Friseure“. „Wir lieben Wien“, sagen er und seine Schwester Feten, die das Unternehme­n ihres Bruders managt, wenn man sie auf den weit gefassten Namen anspricht. Direkt von Holland an die Sei- Die Auflagen wollen es so: Wo man Plastik durch Naturprodu­kte ersetzen kann, muss das auch geschehen – wie etwa bei den Haarbürste­n.

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Michele Pauty Zweieinhal­b Jahre suchte Eniss Agrebi nach einem geeigneten Standort. Und fand ihn schließlic­h an der noblen Seilerstät­te.
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