Die Presse am Sonntag

Wer führt? Wer folgt?

Auch Tiere haben unterschie­dliche Persönlich­keiten, das sichert das Überleben in launischen Umwelten. Und es schlägt auf das Soziale durch.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wenn man 200 Personen bittet, sich auf einem öffentlich­en Platz so fortzubewe­gen, dass sie immer eine Armeslänge Abstand haben von den Nachbarn, dann formieren sie sich bald in einem Rund um die leer bleibende Mitte: So organisier­en sie sich selbst, so tun es auch Schwärme von Fischen, Vögeln oder Insekten. Aber so ist es nicht immer: Wenn man nur drei der 200 instruiert, sich zu einem Ziel am Rand des Platzes zu bewegen, schließen die anderen sich an, nun ist aus der selbst organisier­ten Bewegung eine von Führung und Gefolge geworden (Phil. Trans. R. Soc B 364, S. 781). Auch das gibt es in der Natur, dort werden natürlich keine Instruktio­nen von Experiment­atoren erteilt, dort geht oder fliegt oder schwimmt einfach einer voran.

Was für einer? Eine der stärksten Triebkräft­e ist der Hunger bzw. Ener- giebedarf, der sorgt etwa bei Zebras dafür, dass trächtige Weibchen sich an die Spitze der Herden setzen. Anderswo übernehmen in der Not die Erfahrenst­en: Bei Orcas mobilisier­en dann die ältesten Weibchen ihr Gedächtnis – wo war früher Futter? –, der Rest der Gruppe vertraut blind. In wieder anderen Fällen entscheide­t der Charakter: Die Wagemutigs­ten gehen voran, so ist das oft bei Menschen, bei ihnen sind es bisweilen auch schlicht die, die am meisten reden, in die englische Fachlitera­tur ist das als „babble effect“eingegange­n. Den gibt es im Tierreich eher nicht, aber forschere und zaghaftere Persönlich­keiten gibt es schon auch.

No na, wird jeder Haustierha­lter sagen. Aber in der etablierte­n Biologie wurden lang die Köpfe geschüttel­t über die Vorstellun­g, Tiere hätten einzelne Charakterz­üge wie wir, ganze Persönlich­keiten gar: Dauerhaft unterschie­dliches Verhalten von Individuen galt allenfalls als eine Art Hintergrun­drauschen. Und noch vor 25 Jahren fanden Vorträge wie die von Andrew Shih (UC Davis) auf Biologenta­gungen gerade noch Raum in der Abteilung „Vermischte­s“: Shih hatte etwas an Ambystoma barbouri bemerkt, einem Sala- mander, der in Wasserlach­en jagt und laicht, das ist gefährlich, dort wird auch er gejagt, von Fischen. Deshalb gehen manche Salamander das Risiko selten ein. Andere scheuen die Gefahr nicht, und sie fahren oft besser: Sie machen so viel Beute, dass sie rasch reifen und sich reproduzie­ren, bevor die Lachen ausgetrock­net sind. Sind sie es, kommen die vorsichtig­eren Artgenosse­n nicht mehr zum Zug (Animal Behaviour 65, S. 29).

Warum gibt es sie dann? Manche Charakterz­üge werden Jungen von ihren Müttern eingebaut, man weiß es länger schon von Vögeln: Wenn im Reihergele­ge der Erste schlüpft und kräftig genug ist, tötet er automatisc­h – in „obligatori­schem Kainismus“– alle später schlüpfend­en Geschwiste­r. Und wenn bei den Kanarienvö­geln der Letzte schlüpft, drängt er sich beim Betteln um Futter rücksichts­los vor. Für beides haben die Mütter gesorgt, mit Steroidhor­monen in den Eiern: Das erste Reiherei erhält viel, daher die Aggressivi­tät, die nachfolgen­den Geschwiste­r sind nur Reserve für den Fall, dass der Erste zu schwach ist. Und bei den Kanarienvö­geln muss der Letzte eben mit den Früheren mithalten können. Aggressiv vs. friedferti­g. In beiden Fällen geht es bei der Variation der Persönlich­keiten um eine Versicheru­ng, eine relativ einfache. Aber die Welt ist komplizier­t, es gibt fette Jahre und magere, und es gibt mehr oder weniger dichte Population­en: Sind Meisen etwa in einem Jahr locker gestreut, bringen aggressive mehr Jungen hoch; wird es aber im nächsten Jahr eng, erschöpfen die Kriegerisc­hen sich rasch in Kämpfen, die Friedferti­gen profitiere­n, Nicolaus Dingemanse (München) hat es erhoben und vermutet, dass es in Gesellscha­ften von Menschen ganz ähnlich zugeht (Ecology Letters 1. 3.).

Und wenn Eichen ein Mastjahr haben, dann fahren auch die Sanftmütig­en besser, diesmal die unter den Wildschwei­nen: Sie bringen dann mehr Junge groß, Sebastian Vetter (Vet-Med Wien) hat es gezeigt (Animal Behaviour 14. 4.). Aber Mastjahre sind selten, und bei Mangel haben aggressive Mütter mehr Erfolg: Es braucht beide Typen, deshalb schafft die Evolution keinen weg, sondern bleibt balanciere­nd.

Das hat Folgen: Es kann Population­en auseinande­rtreiben und die Bildung neuer Arten fördern, etwa wenn Scheue sich absondern bzw. weggebisse­n werden, das zeigen Experiment­e mit Stichlinge­n, von denen Alison Bell (University of Illinois) eben auf einer Tagung berichtete (Nature 352, S. 644). Charaktere helfen aber auch bei der Arbeitstei­lung, selbst da, wo man die bzw. Charaktere kaum vermutet, bei Spinnen: Eine soziale Art, Anelosimus studiosus, hat härtere und sanftere Mitglieder, Letztere bauen das Netz, Erstere töten Beute und verjagen Konkurrenz. Jede Kolonie ist in ihrer Zusammense­tzung passend für die jeweilige Umwelt komponiert – und leidet, wenn man die Netze anderswo hinhängt, Jonathan Pruitt (UC Santa Barbara) hat es getan (Nature 514, S. 359).

Die Spinnen organisier­en wieder sich selbst, bei anderen geht es um Führung und Gefolge: Dann übernehmen meist die Kühneren und Neugierige­ren – nicht etwa die in der Gruppe Dominanten –, so ist es bei Zebrafinke­n (Animal Behaviour 77, S. 1041) und Weißwangen­gänsen (Animal Behaviour 78, S. 447). So ist es auf den ersten Blick auch bei Stichlinge­n, aber bei ihnen zeigen sich dann die Feinheiten: Es geht nicht einfach darum, wer losstürmt, entscheide­nd ist schon auch, wer hinterhere­ilt: Menschen schließen sich in Entscheidu­ngsprozess­en eher denen an, deren Charakter ihrem eigenen ähnelt. Stichlinge halten es auch so, Shinnosuke Nakayama (Berlin) hat es bemerkt: Er experiment­iert länger schon mit diesen Fischen und brachte sie bisher zu zweit zusammen, dann führte der Mutige, und der Scheue folgte, es gab ja keine Wahl.

Deshalb hat Nakayama nun variiert und Dreiergrup­pen zusammenge­stellt, mit einem Mutigen und zwei Scheuen oder umgekehrt. Wie wagen die sich aus einer Deckung? Gleich und gleich gesellt sich gern, bei den Scheuen. Die folgten zwar manchmal auch Mutigen, aber nur deshalb, weil die sich viel öfter aus der Deckung trauten (Biology Letters 1. 5.). Die Mutigen selbst kümmerten sich wenig darum, wer führte und ob es überhaupt jemand tat, sie schwammen einfach drauf los.

Der erste geschlüpft­e Reiher tötet alle späteren. Hormone im Ei machen ihn aggressiv. Menschen schließen sich gern anderen mit ähnlichem Charakter an. Stichlinge auch.

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