Jahrzehnte am Meer
Die deutsch-türkische Autorin Deniz Selek legt mit »Die Frauen vom Meer« die epochenübergreifende Geschichte einer Familie vor. Ein Roman über Entwurzelung und stetigen Neubeginn.
Das Meer hat Seza sowohl die guten als auch die schlechten Nachrichten ihres Lebens überbracht. Die guten Tage kamen, als sie am Hafen im rumänischen Constan¸ta/Köstence stand und auf ihren Mann Sercan wartete, den Kapitän, den ihr das Schwarze Meer zumindest für ein paar Wochen Urlaub übergab. Die schlechten Tage kamen, als Sercan nicht mehr auftauchte. Lange Zeit warteten Seza und ihre kleine Tochter Ferah am Hafen, aber das Meer blieb stumm, und so fasst die tatarische Kleinfamilie endlich den Mut und zieht selbst in die Heimat Sercans, in die Türkei, die gerade zu einer Republik geworden war.
Obwohl der Sprache mächtig, kommen Mutter und Tochter in einer für sie sonderbaren Welt an. Das Istanbul der 1920er-Jahre ist ein turbulentes Pflaster, man raucht auf den Straßen, selbst die wohlbekannten Gesänge des Muezzins klingen anders für Seza und Ferah. „Das Erste, was ihr an Istanbul auffiel“, beschreibt Autorin Deniz Selek die Eindrücke Sezas, „waren die vielen schicken Frauen, die neben ebenfalls gut gekleideten Herren nicht nur sehr modern und selbstbewusst wirkten, sondern auch sehr wohlhabend.“Zwischen Schwarzem Meer und Bosporus beginnt also die Geschichte jener Menschen, die Selek in ihrem Roman „Die Frauen vom Meer“zusammenträgt.
Mit Ferah und ihrer deutschen Schwiegertochter Elisabeth findet die Erzählung ihre Fortsetzung. Auch Elisabeth ist mit dem Meer verbunden, ist sie doch in Stolpmünde/Ustka aufgewachsen, oben an der Ostsee. Ihre Kindertage fallen mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen, der Vater ist an der Front, und jedes Mal, wenn er seine Familie besucht, ist er noch ausgemergelter, noch niedergeschlagener. Jahre später begegnet Elisabeth als junge Erwachsene in Berlin einem Studenten, Ferahs Sohn. „Der junge Mann hieß Haldun und stammte aus Istanbul und damit aus einem ihr völlig unbekannten Kulturkreis. Ein Stipendium hatte ihn an die Technische Universität nach Berlin geführt.“
Es sind mehrere Welten und mehrere Epochen, die Selek ihren Lesern beschreibt. Als Protagonist fungiert das Meer, denn hier kommen die Erinne- Deniz Selek »Die Frauen vom Meer« Droemer 400 Seiten 15,50 Euro