Warum einst der Nullmeridian durch Klosterneuburg verlief
In einer Handschrift von 1421 finden sich Koordinaten einer heute verlorenen Landkarte. Wie eine Rekonstruktion zeigt, verlief auf ihr der Nullmeridian, also der zentrale Längengrad, durch die Babenbergerstadt. Ein gelungener Streich gegen das eigentliche
Die Bibliothek des Stifts Klosterneuburg gilt als die größte wissenschaftliche Privatbibliothek, nicht nur von Nieder-, sondern von ganz Österreich. In ihren Regalen reihen sich rund 275.000 Bände, mehr als 800 Inkunabeln und über 1250 mittelalterliche Handschriften aneinander. Unter ihnen finden sich auch Astronomiebücher aus dem 15. Jahrhundert, die als Grundlage für eine heute verlorene Landkarte besonderer Art dienten: Auf ihr durchläuft der Nullmeridian – also jene zentrale Längengradlinie zwischen den Polen, die mit null Grad die Referenzlinie für alle anderen Längengrade ist – durch die alte Babenbergerstadt nördlich von Wien. Mehr noch: Die Karte markiert einen Übergang vom ptolemäischen zum heliozentrischen Weltbild – und das ein Jahrhundert, bevor sich diese Sichtweise in Europa durchsetzen wird.
„Die Wahl des Nullmeridians war immer und ist heute noch willkürlich“, sagt Martin Haltrich, Bibliothekar des Stifts Klosterneuburg. „Der Mächtigste setzte sich durch und damit seine Stadt ins Zentrum – oder eben auf den Nullmeridian.“Dass dies im Fall der sogenannten „Fridericuskarte“just Klosterneuburg war, ist Georg Muestinger geschuldet. Der Augustiner-Chorherr, der auch als Astronom bekannt war, wurde 1418 Propst des Stifts. Unter seiner Ägide wurden neben religiösen Schriften auch Himmelsgloben und Karten angefertigt – von letzteren zeugen heute noch Koordinatenlisten von 703 Orten.
Eine der Listen ist im Codex Latinus Monacensis 14.583 der Bayerischen Staatsbibliothek in München überliefert und die Basis der Fridericuskarte. Sie entstand um 1421, wie aus Notizen im Stiftsarchiv hervorgeht. Dort ist zu lesen, dass in der Zeit zwischen 1420 und 1422 40 Gulden (wohl 5000 bis 7000 Euro) für eine „mappa“, eine Karte also, ausgegeben wurden, von denen ein Schreiber namens Fridericus vier erhielt. Das Original ist nicht erhalten, aber eine Liste mit den damals verwen- deten Koordinaten. Auf deren Basis fertigte der US-Historiker Dana Bennett Durand in den 1930er-Jahren eine Rekonstruktion an: die Vienna-Klosterneuburg Map of the Fifteenth Century.
Allerdings wich Durand teils von den Codex-Vorgaben ab: Er drehte die Karte, die nicht (wie heute üblich) nach Norden, sondern nach Südosten orientiert war, um 160 Grad und setzte manche Orte nach Gutdünken. Eines aber änderte er nicht: Klosterneuburg blieb am Nullmeridian. „Das kann als Herausforderung des mächtigeren Nachbarn interpretiert werden“, sagt Haltrich. Immerhin war damals Wien das Machtzentrum, nicht Klosterneuburg.
Dennoch setzte sich die neue Maßlinie kartografisch nicht durch: Zwar wurde die Fridericuskarte vermutlich verwendet – „man war mobiler, als viele glauben“, meint Haltrich. Doch ging sie verloren, und mit ihr der Nullmeridian durch das Chorherrenstift.
»Die Nullmeridianlage zeigt das Selbstbewusstsein eines forschenden Kirchenmannes.«
Heute zieht sich der senkrecht zum Erdäquator stehende und vom Nordzum Südpol verlaufende Halbkreis namens Nullmeridian durch Greenwich, einen Stadtteil im Südosten Londons. Jedoch erst seit 1884: Damals trafen einander Vertreter aus 25 Ländern in Washington D. C. (USA) zur Internationalen Meridiankonferenz und verständigten sich darauf, eine Linie zwischen den Polen, die unter anderem durch Greenwich führte, zur Referenz des Koordinatensystems zu machen. Zur Wahl gestanden waren auch eine Linie durch Paris (der Pariser Nullmeridian), der seit dem Jahr 100 bekannte Ferro-Nullmeridian (definiert durch die Kanareninsel Ferro im Atlantik), ein Meridian bei den Azoren und einer im Pazifik. Dass London den Zuschlag erhielt kann als Spiegelbild der Macht des British Empire gelten, das damals so ziemlich auf seinem Höhepunkt war.
Wichtiger als die politische ist die wissenschaftliche Komponente der Fridericuskarte: „Sie verdeutlicht einen Paradigmenwechsel“, so Haltrich. „Man begann zu vermessen, zu notieren und zu rechnen“, sagt der Historiker. Und: „Man lässt mit diesem Vorgehen das heilsgeschichtliche Weltbild hinter sich und geht mit großen Schritten Richtung Wissenschaft und humanistisches Weltbild.“In anderen Worten: Die ptolemäische Lehre von der Erde als Mittelpunkt des Kosmos gerät in den niederösterreichischen Sphären ins Wanken. Im Clinch mit Kirche. Und das, obwohl sich das heliozentrische Weltbild, bei dem die Sonne im Zentrum steht, erst im 16. Jht. durchsetzen und auf heftigen kirchlichen Gegenwind stoßen wird. Denn mit der Karte wird von dem Weltbild, das Bibel und Kirche festlegen, zugunsten der natur-