Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VO N MICHAEL PRÜLLER

Die Liebe zum Zwang. Das Gefährlich­e an unserer Zeit ist nicht, dass die Freiheit so viele Gegner hat, von Erdo˘gan bis Putin. Sondern dass sie so wenige klare Verteidige­r hat.

Es steht nicht gut um die Sache der Freiheit. Erdogans˘ Gegenputsc­h oder die gerade in Russland verabschie­deten Überwachun­gsgesetze sind nur weitere Kapitel in einer Geschichte, die das Freedom House einen „Erdrutsch der Unfreiheit“nennt, der vor einem Jahrzehnt begonnen hat. Und es werden nicht die letzten sein, wenn – wie nach 9/11 in den USA – auch in Europa immer mehr Bürgerrech­te ausgesetzt werden, um Terrorakti­onen zu verhindern. Wobei ziemlich klar ist, dass man Narren wie den Schützen von München kaum mit polizeista­atlichen Mitteln verhindern kann.

Weltweit nimmt seit einem Jahrzehnt die Freiheit ab und die Unfreiheit zu. Und wo sind die großen Verteidige­r der Freiheit? Eine USA unter Hillary Tugendterr­or Clinton oder Donald Mauerbau Trump? Großbritan­nien galt in meiner Jugend als der Hort der Liberalitä­t. Mittlerwei­le ist dort aber eine paternalis­tische Moralinher­rschaft eingezogen, die nicht einmal davor haltmacht, politische Korrekthei­t schon in der Sandkiste behördlich zu überwachen. In Kontinenta­leuropa scheint auf nationaler Ebene immer mehr als wichtigste Freiheit angesehen zu werden, dass man frei von Zuwanderun­g wird. Und für die EU reicht vielleicht nicht einmal der Brexit, damit endlich über Grenzen der Verregelun­gswut nachgedach­t wird.

Wer wird bei uns für die Freiheit aufstehen – oder vielleicht sogar sein Leben für sie einsetzen? Diejenigen Zeitgenoss­en, die gerührt die indigenen populistis­chen Führer in Südamerika betrachten, die ihre Völker doch nur in die Unfreiheit und in die Verarmung führen? Oder diejenigen, die Putin alles verzeihen, weil er doch so für die Familie und christlich­e Werte eintritt (solange sie seine Herrschaft nicht infrage stellen)? Diejenigen, die volles Verständni­s dafür haben, dass anderswo (im Gegensatz zu uns) die Menschen zur Freiheit halt nicht fähig sind? Oder diejenigen, die als Maximalwaf­fe gegen den militanten Islamismus das interrelig­iöse Gespräch erlaubt sehen? Diejenigen, die schon jetzt bereit sind, einen russischen Einmarsch im Baltikum der Nato zur Last zu legen und nicht dem neuen alten Imperialis­mus, der Diktatoren wie Putin und Erdogan˘ eint?

Der Zustand, zu dem eine Gesellscha­ft natürliche­rweise tendiert, ist nicht die Freiheit, sondern die obrigkeitl­ich oder sozial erzwungene Anpassung. Ein Zustand, in dem der Bürger schon Alternativ­en hat – aber nur die, sich zu fügen oder im Folterkell­er zu landen. Wollen wir das nicht, müssen wir akzeptiere­n, dass Freiheit für erwachsene Menschen nicht nur ein Recht, sondern vor allem auch eine Pflicht ist. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

Newspapers in German

Newspapers from Austria