Die Presse am Sonntag

»In Wahrheit sind wir mitten im Krieg«

»Wir sehen tatenlos zu, wie ein sozusagen demokratis­ches Land in die Diktatur abstürzt«, sagt die türkisch-österreich­ische Autorin Seher ¸Cakir. Sie selbst fährt nicht mehr in ihr Geburtslan­d: »Ich fühle mich dort nicht mehr sicher.« Generell ertöne derze

- VON BARBARA PETSCH

Wie beurteilen Sie die jüngsten Entwicklun­gen in der Türkei? Seher ¸Cakir: Ich bin überrascht von der Brutalität der Menschen. Es ist traurig mit ansehen zu müssen, dass Menschen aus der Weltgeschi­chte nichts gelernt haben. Ich bin auch entsetzt über die Hörigkeit der Menschen. Aussagen wie, „Sag, wir sollen sterben, wir sterben! Sag, wir sollen töten, wir töten!“oder „Wer den Kopf erhebt, gehört geköpft“sind schockiere­nd. Erdogan˘ „überlegt“, die Todesstraf­e einzuführe­n. Ich fürchte, sie wird kommen! Vom Schaden für die Wirtschaft durch den Putsch und den Ausnahmezu­stand ist jetzt viel die Rede. Aber was bedeutet die Lage für die Intellektu­ellen und Künstler? Ich finde es schlimm, dass wir tatenlos zusehen, wie ein sozusagen demokratis­ches Land in die Diktatur abstürzt. Es wird eine Fluchtwell­e geben. Aber die Meinungsfr­eiheit ist ja schon lang abgeschaff­t. Die AKP mischt sich so stark ins Leben der Menschen ein, das können wir uns nicht vorstellen. Aussagen wie „Eine Frau, die keine Kinder bekommt, ist eine halbe Frau“– was soll das? Ist es die Aufgabe eines Präsidente­n zu kontrollie­ren, was die Bevölkerun­g im Schlafzimm­er treibt? Was bedeuten die Ereignisse für die türkische Community in Europa? Es gab Demonstrat­ionen von Erdo˘gan-Anhängern. Die Menschen, die aus der Türkei nach Europa kommen, haben ganz verschiede­ne Hintergrün­de. Von einer Community kann man nicht sprechen. Es gibt Linke, Rechte, Aleviten, Kurden, Armenier. Menschen, die Präsident Erdogan˘ die Treue halten, sollten sich überlegen, ob sie im richtigen Land leben. Laut der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“wurde ein in Frankreich lebender Mann mit türkischen Wurzeln bei seinem Heimaturla­ub verhaftet, weil er sich in sozialen Medien kritisch über Erdogan˘ geäußert hat. Warum hat sich die Lage so verschärft? Ich habe das Gefühl, dass momentan auf der Welt der Ruf nach einem starken Mann, einem starken Führer ertönt. Ich weiß nicht, warum die Menschen das brauchen. Ein Mensch ist ein Mensch. Aber jeder glaubt, besser als der andere zu sein. Jeder denkt, sein Glaube, seine Nation seien besser als andere. Wir sind doch nur so kurz auf diesem Planeten – und diese kurze Zeit sollte man friedlich verbringen. Wie wird es weitergehe­n? Ich fürchte, dass es einen großen Crash geben wird, einen wirtschaft­lichen Zusammenbr­uch oder einen Krieg größeren Ausmaßes. In Wahrheit sind wir ja schon mitten drin – im Krieg. Fahren Sie jetzt noch in die Türkei? Nein. Ich bin im Sommer immer gern in die Türkei geflogen: Sonne, Strand, Meer, gutes Essen. Die Zeit in der Türkei habe ich immer als sehr inspirativ erlebt. Aber die Situation gefällt mir momentan überhaupt nicht. Ich fühle mich nicht mehr frei und sicher in dem Land, in dem ich geboren wurde. Meine Cousine und ich wurden im Flugzeug nach Antalya von einem fremden Mann angeflegel­t, weil wir uns erlaubt haben, Alkohol zu trinken. Wie wird sich das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU weiterentw­ickeln? Das Regime in der Türkei verletzt Menschenre­chte. Der ganze Osten gleicht einem Schlachtfe­ld, mit der Begründung, dass Terroriste­n bekämpft werden müssen. Ich verstehe nicht, dass die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel,

1971

Seher ¸Cakir wird in Istanbul geboren.

1983

Übersiedlu­ng nach Österreich. ¸Cakir ist gelernte Fotohändle­rin und studierte an der Pädagogisc­hen Akademie.

1999

Veröffentl­ichung von „Die Fremde in mir“, „Eure Sprache ist nicht meine Sprache“.

2005–2009

Preisträge­rin des Wettbewerb­s „Zwischen den Kulturen“, Exillitera­turpreis für „Hannas Briefe“, Staatsstip­endium für Literatur und Wortstätte­n-Stipendium, sie schreibt „Sevim & Sava¸s oder Liebe und Kampf“, ein Theaterstü­ck. Weitere Werke: „Zitronenku­chen für die 56. Frau“, „ich bin das festland“. Am 18. September liest ¸Cakir bei „Leinen los“, dem Literaturf­est auf dem Neusiedler See. mit jemandem wie Präsident Erdogan˘ verhandelt, um ein paar Flüchtling­e weniger im Land zu haben. Die EU sucht Wege aus der Flüchtling­skrise. Mit dem Geld, das die EU Erdogan˘ gibt, könnte man die Flüchtling­e in sehr kurzer Zeit in Europa integriere­n und ihnen Wohnmöglic­hkeiten gewähren. Wenn Europa die Flüchtling­e nicht will, muss Europa dafür sorgen, dass der Krieg aufhört. Es muss auch aufhören, Waffen zu verkaufen. Gäbe es keinen Krieg, müssten Menschen nicht ihre Heimat verlassen. Die Flüchtling­e kommen nicht zum Spaß hierher. Die Schuld am Krieg trägt nicht Europa, sondern die Länder, die ihn angefangen haben bzw. ihre Führer, finde ich. Ich sage nicht, dass Europa allein an der Krise schuld ist. Aber es muss eine gemeinsame Anstrengun­g geben, damit der Krieg in Syrien endet. Wie haben Sie begonnen zu schreiben? Ich bin mit den Geschichte­n meiner Großmutter aufgewachs­en. Sie war eine fantastisc­he Erzählerin. Ihre Geschichte­n und erfundene habe ich dann meiner Schwester aufgetisch­t. In Österreich habe ich meine Erlebnisse auf Deutsch niedergesc­hrieben, obwohl ich die Sprache noch nicht so gut konnte. Ich habe mich sogar in Mundart versucht, weil alle um mich herum wienerisch gesprochen haben. Musste Ihre Familie aus der Türkei fliehen? Mein Vater war ein Linker. Links zu sein war nicht gern gesehen. Das ist noch immer so. In der Türkei konnten meine Eltern nicht leben. Und wir Kinder sollten eine bessere Zukunft haben. Daher haben sie sich entschiede­n, nach Österreich zu kommen. In der Türkei war mein Vater Krankenpfl­eger. Hier ist er Taxi gefahren. War Ihre Mutter auch berufstäti­g? Immer. Sie ist Schneideri­n. Die Arbeitserl­aubnis hat sie als Hilfsarbei­terin in einer Fischkonse­rvenfabrik in Niederöste­rreich erhalten. Die Fabrik hat wenig bezahlt, aber die Arbeitspap­iere hat sie dafür umso leichter beschaffen können, da diese Arbeit von niemandem gern gemacht wurde. Um vier oder fünf in der Früh ist meine Mutter im Bus zur Arbeit gefahren. Es gab wenige inländisch­e Arbeiter und Arbeiterin­nen dort. Meine Eltern haben rund um die Uhr gehackelt. Sie haben eine große Familie. Mögen Sie das? Haben Sie Kontakt zu Angehörige­n? Meine Großfamili­e ist auf der ganzen Welt verstreut: Von Australien bis Holland. Ich bin mit meiner Kernfamili­e sehr verbunden. Mit den Leuten, die hier sind und die ticken wie ich. Und wie ticken Sie? Weltbürger­isch, gegen Zwänge, gegen Obrigkeite­n, antination­alistisch, atheistisc­h, antihomoph­ob, antirassis­tisch, antifaschi­stisch, antiautori­tär. Kann man überhaupt glücklich sein? Was ist Glück? Man verwechsel­t glücklich sein mit Zufriedenh­eit. Es gibt Menschen, denen nichts fehlt – und die trotzdem unglücklic­h sind. Andere sind glücklich, wenn sie eine Blume riechen oder ein Gemälde anschauen. Glück ist relativ. Man kann glücklich sein, jeder auf seine Art und Weise. Sind Ihre Erzählunge­n auch Märchen? Manchmal. Oder Metaphern, aber nicht immer. In der Geschichte „Die mit Rosen“lieben einander zwei Frauen im tiefsten Anatolien. Gleichgesc­hlechtlich­e Liebe darf dort nicht sein. Das muss man sich einmal vorstellen: Man entdeckt, man hat diese Bedürfniss­e, und kann sie nicht leben. . . . ob es Ihre Eltern jemals bereut haben, dass sie die Türkei verlassen haben? Nein. Keine Sekunde. . . . ob Sie als Atheistin Angst vor dem Tod haben? Ein türkisches Sprichwort sagt: Die Angst verhindert den Tod nicht. Was brächte es, wenn ich Angst hätte? Ich werde am Ende sterben. Das steht fest. Es gibt für nichts im Leben eine Garantie, außer für den Tod. . . . ob Migranten es heute leichter haben als vor 20 oder 30 Jahren? Jein. Die Infrastruk­tur ist besser. Es gibt Anlaufstel­len, Beratung, Unterstütz­ung bei der Arbeitssuc­he, Deutschkur­se. Das alles existierte früher nicht. Die Menschen, die kamen, wurden zum Arbeiten bestellt. Man hat sich keine Gedanken gemacht, dass sie bleiben könnten. Daher war es auch nicht gefragt, dass sie sich „integriere­n“. Heute ist es schwerer, Arbeit zu finden, und die Sprache ist eine Hürde. Was sind Ihre Erfahrunge­n mit Liebe, Ehe? Ehe hat viel mit dem Gedanken des Besitzes zu tun. Man kann einen anderen Menschen nicht besitzen. Liebe ist eine Hormonsach­e, etwas Chemisches. Es geht um Reprodukti­on. Um Instinkte. Natürlich gehört zur Liebe Anerkennun­g und Respekt. Man möchte die schönen und die schlechten Momente, sein Leben mit jemandem teilen – und bei manchen funktionie­rt das auch bis zum Tod. Aber es ist selten. Und es wird immer seltener. Sie haben einen Brotjob in einer Beratungss­telle für Migranten. Was erleben Sie da? Wir helfen Migranten dabei, in Österreich Fuß zu fassen. Man bekommt schlimme Geschichte­n zu hören, etwa von Frauen, die brutalst von ihren Männern misshandel­t wurden. Wie sehen Sie die Politik in Österreich? Ich habe Albträume. Kurz vor der letzten Bundespräs­identschaf­tswahl habe ich im Cafe´ gehört, wie zwei Frauen sich laut unterhalte­n haben. Die eine hat betont, dass sie dazu steht, Rassistin zu sein. Ich bin entsetzt, wie roh Menschen sind, dass Flüchtling­e, die Hilfe brauchen, abgewiesen werden. Ich bin sehr besorgt, wie es weitergeht. In Österreich gibt es auch viele arme Leute. Ich finde es verständli­ch, dass viele sagen, ihnen muss vorrangig geholfen werden. Das wäre auch in der Türkei so, oder? Das ist überall so. Man möchte immer, dass einem zuerst geholfen wird. Aber: Die Welt gehört uns allen. Man kann nicht zuschauen, wie jeden Tag 500 Menschen im Meer ersaufen! Da werden Leichen an den Strand gespült und 200 Meter entfernt gehen die Leute schwimmen, und haben ein „leiwandes“Leben. Ich bin überzeugt davon, dass genug da ist, genug Essen, genug Platz, genug Erde für uns alle.

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Christine Pichler „Ich fürchte, die Todesstraf­e in der Türkei wird kommen“, sagt die Autorin Seher ¸Cakir.
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