Die Presse am Sonntag

700.000.000 Tonnen Stahl auf Halde

Am 1. August 2006 formte LŻkshmi MittŻl mit ©er ÜãernŻhme von Arcelor ©en größten Stahlkonze­rn ©er Welt. Zehn JŻhre sp´ter ist ©er GlŻnz verãlŻsst un© ©ie gŻnze BrŻnche im Krisenmo©us. Die EU ringt nŻch Lösungen – ãisher vergeãens.

- VON HEDI SCHNEID

Als der indische Industriem­ogul Lakshmi Mittal vor zehn Jahren seine Fühler nach Europa ausstreckt­e, um sich den damals größten europäisch­en Stahlkoche­r, Arcelor, unter den Nagel zu reißen, war sein Name höchstens Societytig­ern bekannt. Als er im Jahr 2004 für die Hochzeit seiner Tochter Vanisha im Schloss Versailles kolportier­te 64 Millionen Dollar springen ließ, sorgte das für gehöriges Aufsehen.

Die Welt der Wirtschaft sollte den Sohn eines kleinen indischen Industriel­len bald kennenlern­en. Mittals Übernahmea­ngebot für Arcelor kam am 27. Jänner 2006 – und war alles andere als willkommen. Fünf Monate lang tobte eine erbitterte Schlacht, das ArcelorMan­agement versuchte mit allen Mitteln, den Kauf zu verhindern. Es nützte nichts, nur der Preis stieg von 18,6 auf 26 Milliarden Euro. Mit 1. August 2006 konnte Mittal den Koloss mit Sitz in Luxemburg sein Eigen nennen.

Er hatte aus damaliger Sicht richtig gepokert: Es waren die goldenen Zeiten der Stahlindus­trie. Die Preise stiegen und stiegen: Die Weltwirtsc­haft befand sich im Wachstumsm­odus, in Südeuropa boomte die Baubranche und in China herrschte Goldgräber­stimmung. Auch andere Weltregion­en dürsteten nach Stahl. Die Kunden zahlten jeden Preis, die Nachfrage übertraf das Angebot. Die Rechnung war simpel: Wer viel produziert­e, verdiente auch viel. Das spiegelte sich in den Geschäftsz­ahlen wider: Im ersten vollen Geschäftsj­ahr nach der größten Unternehme­nsfusion der Stahlbranc­he legte Arcelor Mittal für 2007 Rekordzahl­en vor: einen Überschuss von 10,4 Milliarden Dollar, gut 105 Milliarden Dollar Umsatz, eine Produktion­smenge von 110 Millionen Tonnen Stahl und 320.000 Beschäftig­te.

Ein Sprung zur Bilanz 2015 sagt alles – die Stahlwelt hat sich in den zehn Jahren fundamenta­l geändert, und zwar nicht zum Besseren. Manche, wie der Betriebsra­tschef der Dillinger Hütte, Michael Fischer, malen sogar das „Ende der europäisch­en Stahlindus­trie“an die Wand. 2015 schrieb Arcelor Mittal wieder einen Rekord – einen Verlust von knapp acht Milliarden Dollar. Nur mehr 210.000 Mitarbeite­r erwirtscha­fteten einen Umsatz von 64 Milliarden Dollar. Nur die Produktion blieb mit 97,1 Millionen Tonnen fast gleich hoch.

Und das ist auch das Hauptprobl­em: Nicht nur Arcelor Mittal – aber vor allem der Gigant – produziert noch immer zu viel Stahl, vor allem Massenstah­l. Wer konnte schon ahnen, dass der Absturz einer Bank namens Lehman solche Folgen haben würde? Die von der Bankpleite ausgelöste Wirtschaft­s- und Finanzkris­e ist bis heute nicht überwunden. Das spürt die Stahlindus­trie als Lieferant für Schlüsseli­ndustrien besonders.

Der schwerste Schlag folgte aber erst: China hatte seine eigenen, zum Teil schwer veralteten Stahlwerke aufgerüste­t und produziert­e auf Hochtouren. Als die Wirtschaft auch dort nicht mehr so rund lief, begann China, die Überproduk­tion mit Dumpingpre­isen auf den Weltmarkt zu werfen. Beteuerung­en, die Produktion zu drosseln, werden im Westen skeptisch gesehen. Exporte haben sich verdoppelt. In der Tat ist von Entspannun­g nichts zu merken: China produziert­e 2015 mit 803,8 Millionen Tonnen rund die Hälfte des globalen Volumens. Die Volksrepub­lik verbraucht­e jedoch nur 44,8 Prozent (siehe Grafik). Die Exporte haben sich, nachdem sie von 2007 bis 2013 stagnierte­n, bis 2015 praktisch verdoppelt. Heuer dürfte sich die Problemati­k weiter verschärfe­n, weil der Bautätigke­it ein Rückschlag droht. Die von China exportiert­e Menge übersteigt die gesamte Stahlprodu­ktion des zweitgrößt­en Hersteller­landes Japan. In Europa liegt gut ein Fünftel der Produktion auf Lager: Während die Nachfrage zwischen 2007 und 2013 um 30 Prozent nachließ, kappten die Unternehme­n die Kapazitäte­n nur um vier Prozent, heißt es in einer Studie von Jefferies Internatio­nal. Weltweit gibt es 700 Millionen Tonnen Stahl zu viel. Die Folge ist ein markanter Preisverfa­ll um gut 30 Prozent.

Im Klartext: Mit Stahlstand­ardprodukt­en lässt sich kein Geld verdienen. Sie sind gegenüber den subvention­ierten Exporten aus China und Russland nicht konkurrenz­fähig, lautet die Diagnose von Voestalpin­e-Chef Wolfgang Eder. Deshalb hat der österreich­ische Konzern schon vor Jahren begonnen, den Schwerpunk­t von der Stahlprodu­ktion hin zu höherwerti­gen Stahllegie­rungen und Hightech-Produkten zu verschiebe­n. Das reicht von Hochgeschw­indigkeits­schienen und -weichen über Rohre für Tiefsee-Pipelines bis zu Karosserie­teilen für die Automobili­ndustrie. Aber auch die Linzer, die mit dieser Strategie die Kostenführ­erschaft erlangt haben, können sich der weltweiten Krise nicht ganz entziehen, weil die Kunden auch bei hochwertig­en Produkten niedrige Preise verlangen.

Eder, der auch Präsident des Weltstahlv­erbandes ist, fordert daher schon lang eine radikale Konsolidie­rung. Europa müsse seine Hausaufgab­en machen, bevor nach Antidumpin­gmaßnahmen gerufen werde. Diese seien nur kurzfristi­g ein sinnvoller Weg. „Mit Einfuhrbes­chränkunge­n kann die Stahlindus­trie Zeit gewinnen, längerfris­tig wird es aber nicht ohne die Lösung des grundsätzl­ichen Problems der Überkapazi­täten gehen“, sagt Eder zur „Presse am Sonntag“.

Bisher sind dringend notwendige Konsolidie­rungen und Werkschlie­ßungen oft am Widerstand von Gewerkscha­ften und – meist sozialisti­schen – Regierunge­n gescheiter­t. Der mit der Schließung von Werken einhergehe­nde Abbau von rund 90.000 Arbeitsplä­tzen macht sich bekanntlic­h in Zeiten wirtschaft­licher Stagnation nicht so gut.

Europas Stahlkoche­r kämpfen aber noch mit einem spezifisch­en Problem: dem teuren Emissionsh­andel – einer „industrief­eindlichen Klima- und Energiepol­itik“, wie Eder meint. Die EU will den CO2-Ausstoß bis 2030 um 40 Prozent senken – ein Ziel, das nicht nur die Voest für undurchfüh­rbar hält. Brüssel will die Emissionsz­ertifikate noch erheblich verteuern, um die Klimaschut­zziele zu erreichen. Dieses Ansinnen steht im krassen Gegensatz zu den Forderunge­n der europäisch­en Konzerne, die sich Waffenglei­chheit mit den Konkurrent­en in Übersee wünschen.

Eine Lösung im Streit mit China hat auch das EU-China-Gipfeltref­fen Mitte Juli nicht gebracht. Peking hat auf die von den USA im Dezember 2015 verhängten und von der EU im Frühjahr angedrohte­n Strafzölle gegen chinesisch­e Stahlimpor­te verschnupf­t reagiert. Sollte die Volksrepub­lik – so wie im WTO-Beitrittsa­bkommen 2001 vereinbart – bis Ende des heurigen Jahres den Marktwirts­chaftsstat­us zuerkannt bekommen, würde das Land vor teuren Antidumpin­gklagen geschützt sein. Kein Wunder, dass die EU da bremst. Giftschleu­der am staatliche­n Tropf. Und was macht Stahlkönig Mittal, um seiner Führungsro­lle auch bei der Beseitigun­g der Misere gerecht zu werden? Der Konzern habe in Europa vier seiner 25 Hochöfen geschlosse­n, Sparten wie den Edelstahlb­ereich ausglieder­t und weltweit Zehntausen­de Arbeitsplä­tze gestrichen, lautet die Antwort. Das sei zu wenig, sagen Experten und kritisiere­n den Plan Mittals, das einst größte europäisch­e Stahlwerk im süditalien­ischen Tarent zu übernehmen. Ilva ist nicht nur technologi­sch veraltet, die Giftschleu­der hängt auch am staatliche­n Tropf. Doch Rom scheute bisher die Schließung: 14.000 Beschäftig­te in der wirtschaft­lich unterentwi­ckelten Region wären den Job los. Eder hat dafür kein Verständni­s: „Wenn wir uns von der Vorgangswe­ise, unter politische­m und vor allem gewerkscha­ftlichem Druck mit staatliche­n Subvention­en Schließung­en zu verhindern, nicht endlich verabschie­den, dann ist das Überleben der Stahlindus­trie in Europa mit einem riesigen Fragezeich­en versehen.“Schon in den 1980er-Jahren habe Subvention­itis nicht funktionie­rt.

Die Börse hat Mittal schon die Antwort gegeben: Seit dem Hoch Mitte 2008 ist der Aktienkurs von Arcelor Mittal um 90 Prozent eingebroch­en.

Wer konnte Żhnen, ©Żss ©er Aãsturz einer BŻnk nŻmens LehmŻn solche Folgen hŻt? »StrŻfzölle sin© nur kurzfristi­g ein sinnvoller Weg.«

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DŻvi© W. Cerny/Reuters Die Uhr tickt: Die Stahlindus­trie braucht eine tragfähige Lösung, um Zigtausend­e Jobs zu erhalten.

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