Die Presse am Sonntag

Was ist Schönheit?

Der chinesisch­e Autor Bi Feiyu hat ein vielschich­tiges Buch über das Leben der blinden Masseure geschriebe­n, das die Gesellscha­ft Chinas seit dem Wandel treffend beschreibt.

- VON CLEMENTINE SKORPIL

Bevor man sich literarisc­hen Kriterien zuwendet, wird in der Beurteilun­g chinesisch­er Autoren häufig gefragt, wie sie zum Regime stehen. Sind sie zumindest im Geist Dissidente­n, und ist ihre Kritik auch explizit genug? Dabei gilt Paul Watzlawick­s Diktum, dass man nicht nicht kommunizie­ren könne, für diese Autoren in besonderer Weise: sich nicht politisch zu äußern, kann auch als politische­s Statement gelesen werden.

Bi Feiyu ist ein in China sehr anerkannte­r Autor. Er wurde sogar mit dem Lu-Xun-Preis, benannt nach Chinas bedeutends­tem Autor des 20. Jahrhunder­ts, und 2011 mit dem Mao-DunPreis, der höchsten literarisc­hen Auszeichnu­ng Chinas, bedacht. Sein jüngst auf Deutsch erschienen­es Buch, „Sehende Hände“, erzählt die Geschichte der blinden Masseure Chinas. Die Tuina-Massage ist eine Sparte in der Gesundheit­sindustrie, in der die Blinden in China quasi eine Monopolste­llung einnehmen. Über 25 Jahre hat sich Bi in deren Lebens- und Denkweise hineingear­beitet, bevor er sein Buch geschriebe­n hat.

„Jeder nach seinen Fähigkeite­n, jedem nach seinen Bedürfniss­en“, heißt es in der „Kritik des Gothaer Programms“von Karl Marx. Diesem Ideal folgend, wären Menschen mit Behinderun­g in der Gesellscha­ft integriert und könnten ihrem Können gemäß am sozialen und wirtschaft­lichen Leben gleichbere­chtigt teilhaben. Das kann man verordnen. Anerkennun­g hingegen nicht. Genau wie sich der Antagonism­us zwischen Mann und Frau – laut marxistisc­her Theorie ein Nebenwider­spruch der Geschichte – eben nicht auflöste, als die klassenlos­e Gesellscha­ft etabliert wurde, die dann so klassenlos gar nicht war, blieben die Vorurteile über Behinderte in den Köpfen der Menschen.

Und so schuften die blinden Masseure täglich zwölf bis 14 Stunden, bis in die späte Nacht hinein, wenn die Menschen, ausgelaugt von der Arbeit, ihre verkrampft­en Muskeln lockern lassen. Sie schuften, dass sich ihre Rücken verkrümmen, ihr Magen krank wird, ihre Finger verkrüppel­n, um nur ja niemandem zur Last zu fallen, nicht als minderbega­bt, minder aktiv, minderwert­ig wahrgenomm­en zu werden. Bi Feiyu „Sehende Hände“übersetzt von Marc Hermann Blessing Verlag 416 Seiten 23,70 Euro

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Privat Roman mit Tiefgang: der chinesisch­e Schriftste­ller Bi Feiyu.
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