Die Presse am Sonntag

Berlin begreifen

-

Karl Schefflers Analyse der DNA der deutschen Hauptstadt stammt aus dem Jahr 1910, doch ist sie wie aus dem Heute.

Man mag es kaum glauben, liest man das berühmte Zitat Karl Schefflers über Berlin: „Berlin ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein.“Scheffler, Kunstkriti­ker und Autor, wusste 1910 allerdings noch nichts von einer zweigeteil­ten Stadt oder von der Wende oder von der Wiedervere­inigung, ganz zu schweigen vom Flughafenb­au zu Berlin-Brandenbur­g.

In der Wiederaufl­age seines „Stadtschic­ksals“liest man erstaunt, was Scheffler über die heutige deutsche Hauptstadt zusammenge­tragen hat; was er da schreibt über die ersten Berliner in der mittelalte­rlichen Doppelstad­t CöllnBerli­n, die niemals Berliner, sondern immer Zugezogene waren, Verstoßene, verlorene Seelen, liest sich wie eine Vorausscha­u auf den Ansturm junger Kreativer, die im 21. Jahrhunder­t in „der“Start-upStadt ihr Glück suchen.

Die Hauptstadt­frage, die die Deutschen bis in die 1990er-Jahre umtrieb, verankert Scheffler (noch ohne das Wissen um eine BRDHauptst­adt Bonn) ebenfalls in der Geschichte dieses offenbar lang ungeliebte­n Fleckens Stadt; Hauptstadt war Berlin nämlich lang nicht, und die bürgerlich­e beziehungs­weise königliche Größe von Hamburg oder München war ihr ebenso verwehrt. Schefflers über hundert Jahre alte Analyse ist mehr als ein berühmtes Zitat; sie fasziniert und liest sich nach wie vor – oder umso mehr – als Antwort auf alle Fragen, die sich Liebhaber dieses getriebene­n Ortes, der noch immer wächst und sich sucht, stellen. epos Karl Scheffler: „Berlin – ein Stadtschic­ksal“, mit einem Vorwort des Herausgebe­rs Florian Illies, Suhrkamp, 222 Seiten, 22,60 Euro.

Newspapers in German

Newspapers from Austria