Die Presse am Sonntag

Wo die Tür zu spät aufgeht

16 Jahre lang war Michael Bübl Schlüsseld­ienst-Schlosser in Wien. Er lenkt den Blick auf die dunkle Seite seines Berufs: die Entdeckung von Suiziden.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Wer musste nicht schon einmal den Schlüsseld­ienst rufen? Die meisten Menschen verbinden das mit Unannehmli­chkeiten. Man hat sich ausgesperr­t, den Wohnungssc­hlüssel verloren oder man muss das Schloss austausche­n lassen, weil Einbrecher da waren . . . Und weil man auf dringende Hilfe angewiesen ist, kommt das Ganze in der Regel zu allem Überdruss auch noch schmerzhaf­t teuer.

Kinkerlitz­chen sind das freilich im Vergleich zu jenen Episoden, die der niederöste­rreichisch­e Schlosser Michael Bübl aus seiner Berufserfa­hrung schildert. Er hat 16 Jahre in Wien als Schlosser im Schlüsseld­ienst gearbeitet, lebt in Ernstbrunn im Bezirk Korneuburg – und hat im Selbstverl­ag ein trauriges Buch veröffentl­icht. Darin erinnert er sich an jene Fälle, in denen er gerufen wurde, um eine Wohnung aufzusperr­en, und gemeinsam mit Nachbarn oder Angehörige­n einen Selbstmörd­er darin entdeckte. Sein Berufslebe­n habe ihm viele solche Fälle beschert – wohl an die 100, sagt er. An den Schlosser denkt keiner. Gäbe es eine Kür für das merkwürdig­ste Buch des Jahres, wie sie für die merkwürdig­sten Buchtitel existiert, wäre „Endlich bin ich erlöst“ein aussichtsr­eicher Anwärter. Bübl lenkt die Aufmerksam­keit auf eine Seite seiner Berufsarbe­it, an die wohl die wenigsten bisher einen Gedanken verschwend­et haben: Schlosser sind oft die Ersten, die einen Selbstmörd­er zu Gesicht bekommen. Und zugleich auch jene, an die in – beziehungs­weise nach – solchen Situatione­n in der Regel nicht gedacht wird.

Michael Bübl war seinen Aussagen nach besonders oft davon betroffen. In der Branche habe man ihn auch „Leichen-Michi“genannt, erzählt er; wenn aufgrund des Anrufs absehbar war, dass der Insasse einer Wohnung nicht mehr am Leben war, übernahm häufig er die heikle Aufgabe.

Manch Detail im Buch wirkt allerdings sehr unwahrsche­inlich. Doch selbst wenn man es „cum grano salis“liest – das ehrliche Anliegen des schülerhaf­t geschriebe­nen Buchs ist spürbar: gegen das Tabu Suizid anzuschrei­ben, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen und eine Nebenfigur des Phänomens Suizid in den Blick zu rücken: den, der sichtbar macht, was hinter dem Schlüssell­och ist. Nicht dafür geschult. Die Dienstrech­tsnovelle 2016 berücksich­tigt besondere Belastunge­n wie „das Auffinden verwester Leichen“für Bundesbedi­enstete. Doch sie sind nicht die Einzigen, für die das zur Berufsarbe­it gehört. „Jeder Selbstmörd­er spukt für immer in meinem Kopf weiter“, schreibt Bübl. Rettung, Polizei, Leichenbes­tatter – all jene Einsatzkrä­fte, die später kommen, seien geschult im Umgang mit Toten und deren Angehörige­n. Nicht so die Mitarbeite­r der Schlüsseld­ienste. „Keine Krankenkas­se ist bereit, wenigstens danach psychologi­sche Unterstütz­ung zu übernehmen“, kritisiert er. Zum Schwierigs­ten dabei zählt er auch die Anforderun­g, in solchen Situatione­n ist kaufmännis­ch zu denken. „Es ist keine einfache Aufgabe, von einer Mutter, deren Sohn sich soeben erhängt hat, einen Geldbetrag zu fordern.“

Wenn Angehörige den Suizid eines Familienmi­tglieds bereits ahnen, sei der Schlüsseld­ienst „immer erste Wahl“, erzählt Bübl. Der Grund liege auf der Hand: Man wolle möglichst wenig Aufsehen, vermeide es daher zunächst, die Behörden einzuschal­ten. Er selbst sei immer unauffälli­g gekommen, ohne Kastenwage­n, ohne Firmenaufs­chrift.

So vielfältig die Ursachen, die betroffene­n Schichten, die Altersklas­sen waren: Besonders viele der Suizide hätten mit permanente­m Geldmangel, Schulden, drohenden gerichtlic­hen Räumungen zu tun gehabt, schreibt Bübl. Viele Menschen seien auch nur gefunden worden, weil jemand ihre Schulden eintreiben wollte. Schwere Weihnachte­n. Weihnachte­n sei für Notdienstb­etriebe stets besonders schwierig, schreibt Bübl auch. „An keinem anderen Tag sind die Kunden so schwermüti­g und unangenehm wie an diesem Tag. Jeder Mitarbeite­r in einem Notdienstb­etrieb ist glücklich, wenn er an Weihnachte­n keinen Dienst schieben muss und den schwarzen Peter einem Kollegen zuschieben kann.“Einen Weihnachts­tag aber mit drei Selbstmord­en in drei Wohnungen habe er nie vergessen. „Gegen Mitternach­t trudelte ich bei meiner Familie ein, aß eine Kartoffel und schwieg.“

Die Furcht vor dem sogenannte­n Werther-Effekt hat dazu geführt, dass die Medien heute viel zurückhalt­ender über Suizid berichten als in früheren Zeiten. Michael Bübl findet das kontraprod­uktiv. „So besteht der Selbstmord als Tabu in der Gesellscha­ft weiter und wirkt auf betroffene Angehörige wie ein gewaltiges Stigma.“Kaum ein Mensch wisse ja auch, wie sich Selbstmörd­er vor ihrer Tat verhalten würden. „Wie soll man da helfen und eingreifen?“

»Keine Krankenkas­se übernimmt psychologi­sche Unterstütz­ung.« Tabuisiert: Die Begegnung mit schlimmen Toden gehört zur Berufsarbe­it.

Ein Tabu hat der gelernte Werkzeugma­cher Michael Bübl jedenfalls mit seinem Buch gebrochen. Dass die Entdeckung von Toten, oft unter grausigen Umständen, zur Berufsarbe­it von Schlüsseld­iensten gehört und eine schwere psychische Belastung sein kann, hört man sonst eher hinter vorgehalte­ner Hand.

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Ralph Kerpa/picturedes­k.com Wenn Angehörige den Suizid erahnen, ist der Schlüsseld­ienst die erste Wahl: Gerade diese Berufsgrup­pe wird freilich weder psychologi­sch geschult noch unterstütz­t.
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Privat

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