Die Presse am Sonntag

Die unbemerkte­n Gastarbeit­er

Während Westeuropa unter dem Flüchtling­szustrom stöhnt, findet auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunio­n ein wahrer Strom von Arbeitsmig­ranten statt. Seit Jahren ziehen Millionen auf Jobsuche nach Russland. Seit Beginn der Wirtschaft­skrise aber schickt Mo

- VON EDUARD STEINER

Wenn das Weltgesche­hen einen toten Winkel hat, dann liegt er auf halbem Weg von Moskau nach China. Hier, wo derzeit die saftigen Früchte des Südens in voller Farbenprac­ht erstrahlen, täuscht der Begriff Zentralasi­en darüber hinweg, dass man eigentlich in der Peripherie der Wahrnehmun­g lebt. Und hier, wo das Tianshan-Gebirge mit seinen mächtigen Siebentaus­endern die Silhouette prägt, verleitet die Natur leicht zur Annahme, dass Ruhe und Frieden in den sogenannte­n Stan-Staaten waltet.

Dabei sind diese Ex-Sowjetrepu­bliken von Ruhe weit entfernt. Schon allein die Nachbarsch­aft zu Afghanista­n hat diese seit jeher verhindert. Dazu die internen ethnischen Spannungen, die wiederholt zu Zusammenst­ößen ausarteten. Und nun seit dem Vorjahr auch noch die soziale Bombe kombiniert mit der steigenden Gefahr der islamistis­chen Radikalisi­erung. Neulich hat sie sich in Kasachstan entladen, und nach dem verheerend­en Terroransc­hlag auf dem Flughafen in Istanbul am 28. Juni wurden zum ersten Mal auch Zentralasi­aten als Drahtziehe­r festgenomm­en.

Die Sache ist so dramatisch, wie sie klingt. Und auch wenn der große Bruder Russland nicht schuld an dieser neuen Gefahr ist, so nimmt die jüngste Zuspitzung des Problems doch dort ihren Ausgang. Seit Russland von einer tiefen Wirtschaft­skrise erfasst ist, strahlt das auch auf die Nachbarsta­aten aus. Nicht nur der Handel ging zurück. Schlimmer ist, dass Russland seine Migrations­politik änderte und massenweis­e Gastarbeit­er in ihre Herkunftsl­änder zurückschi­ckte.

An die zwei Millionen usbekische­r Arbeitsmig­ranten seien in den vergangene­n eineinhalb Jahren aus Russland zurückgeko­mmen, sagen Offizielle in Usbekistan. Von einigen Hunderttau­send spricht man im Armenhaus Tadschikis­tan. Und obwohl die Zahlen wohl zu hoch gegriffen sind, weil laut offizielle­r russischer Statistik „nur“etwa eine Million Gastarbeit­er das Land verlassen hat: Ein Teil von ihnen gilt aufgrund der fehlenden Arbeit und der mangelnden Verwurzelu­ng zu Hause als anfällig für islamistis­che Rattenfäng­er, die sich in Zentralasi­en seit Langem herumtreib­en. „Unsere wirtschaft­lichen Bedingunge­n bergen das Risiko, dass sich ein Teil dieser Menschen extremisti­schen Gruppierun­gen anschließt“, meinte Gusel Maitdinowa, Leiterin des Zentrums für geopolitis­che Studien in Duschanbe, schon im vergangene­n Jahr.

Lang hatten Gastarbeit­er die Möglichkei­t zu einem guten Verdienst in Russland gefunden. Gerade Usbeken und Tadschiken, aber auch Kirgisen stellten aus Mangel an Perspektiv­en im eigenen Land neben den Ukrainern und Moldawiern den Großteil der dortigen Fremdarbei­ter. Vor allem, als beim großen Bruder die Rohstoffha­usse der Nullerjahr­e zu jährlichen Wirtschaft­swachstums­raten von sieben Prozent führte, zog es Menschen massenweis­e ins größte Land der Welt.

Ob Bauarbeite­r, Straßenfeg­er oder Kindermädc­hen – Migranten aus diesen Staaten waren gefragt, weil sie erstens Russisch sprachen und zweitens billig waren. Wer nicht mit Familie umsiedelte, ernährte diese von Russland aus. Für die ärmsten Staaten wie Moldawien oder Kirgisista­n war dies schon bald einer der wichtigste­n Wirtschaft­streiber: In Tadschikis­tan machten Überweisun­gen aus Russland etwa die Hälfte des Bruttoinla­ndsprodukt­s aus, in Kirgisista­n ein Drittel, in Usbekistan immerhin noch ein Zehntel. Härtere Gangart. Die Migrantens­tröme waren kein Randphänom­en. Die Anzahl der migrierend­en Personen bewegte sich im zweistelli­gen Millionenb­ereich. An die elf Millionen Ausländer im Land zählte die russische Migrations­behörde Ende 2014 (Beginn der Wirtschaft­skrise) – der Großteil von ihnen ohne Daueraufen­thaltsgene­hmigung und ohne langfristi­ge Arbeitsver­träge. Wie viele Personen illegal im Land waren und sind, weist die Statistik nicht aus. Vjatschesl­av Postavnin, Vorsitzend­er der Stiftung Migration im 21. Jahrhunder­t schätzt, dass sich allein in und um die Metropole Moskau, Russlands größtem Wirtschaft­sraum, an die 1,5 Millionen illegaler Migranten aufhalten. Ein Mitgrund für die hohe Ausländerf­eindlichke­it, auf der Alexej Navalny spielte und damit als einziger Opposition­eller dem Kreml gefährlich wurde, indem er bei den Bürgermeis­terwahlen 2013 in Moskau auf Anhieb 27 Prozent erreichte.

Dass sich die Migrations­richtung nun im Vorjahr geändert hat und Ende 2015 offiziell eine Million weniger Gastarbeit­er in Russland lebte, ist zumindest eine Zäsur. Erklärt wird sie unterschie­dlich: Da ist zum einen der radikale Wertverlus­t des russischen Rubels, der den für die Überweisun­g nach Hause weggelegte­n monatliche­n Lohnanteil der Gastarbeit­er stark reduzierte. Zum anderen hat Russland generell eine härtere Gangart gegenüber Arbeitsmig­ranten eingeschla­gen. Das begann schon 2012, als Kreml-Chef Wladimir Putin unter dem Eindruck der Massendemo­nstratione­n überall die Daumenschr­auben anzog. Schon bald hat sich auch die Zahl der Abschiebun­gen jener Gastarbeit­er, die Rechtsverl­etzungen begangen haben, vervielfac­ht. Innerhalb von vier Jahren erhielten 1,6 Millionen Menschen aus GUS-Staaten ein Einreiseve­rbot, rech- nete kürzlich die Zeitung „Wedomosti“vor: der Großteil von ihnen seit Beginn der Rezession. Die Abschiebun­gen sind das eine. Die Neuregelun­g des Zugangs zum Arbeitsmar­kt das andere. Was in manchen Punkten eigentlich wie eine Vereinfach­ung klingt, ist gleichzeit­ig mit extrem hohen Abgaben (in Moskau an die 800 Euro pro Jahr) belegt. Das neue System habe die Kosten für einen Ausländer derart getrieben, dass es für einen russischen Arbeitgebe­r schon billiger sei, einen Russen einzustell­en, erklärt Konstantin Romodanovs­kij, Chef des Migrations­amts. Rückkehr. Administra­tive Hürden hin oder her. Zieht die Wirtschaft in Russland wieder an, was wohl ab 2017 der Fall sein dürfte, werde die Arbeitsmig­ration auch aus Zentralasi­en wieder zunehmen, heißt es in einer Studie der

Millionen

Ausländer zählte die russische Migrations­behörde Ende 2014. Der Großteil von ihnen verfügt über keine Daueraufen­thaltsgene­hmigung.

Million

Gastarbeit­er weniger zählte Russland Ende 2015.

Jahre

lang wird Russland weiterhin der attraktivs­te Arbeitsmar­kt für Migranten aus Zentralasi­en bleiben, wie aus einer Studie der Eurasische­n Entwicklun­gsbank und des UNOEntwick­lungsprogr­amms hervorgeht. Eurasische­n Entwicklun­gsbank und des UNO-Entwicklun­gsprogramm­s: Zumindest in den kommenden 15 Jahren bleibe Russland der attraktivs­te Arbeitsmar­kt für Migranten aus Zentralasi­en. Dass nämlich die Russen selbst auf Dauer die Arbeiten der Migranten übernehmen, gilt als wenig wahrschein­lich.

Schon jetzt würden Migranten allmählich wieder zurückkomm­en, erklärt Vadim Bezverbnyj, Experte für soziale Demografie an der Russischen Akademie der Wissenscha­ften, im Gespräch mit der „Presse“. Das habe unter anderem mit dem russischen Importemba­rgo für westliche Agrarprodu­kte zu tun, das zu neuen, schlecht bezahlten Arbeitsplä­tzen in der wachsenden Landwirtsc­haft geführt habe. Und es habe damit zu tun, dass „die wirtschaft­liche Situation in den GUSStaaten noch trauriger als in Russland ist“.

Die russische Wirtschaft­skrise strahlt auf die Nachbarsta­aten aus. Zieht die Konjunktur an, werden wieder mehr Arbeitsmig­ranten kommen.

 ?? Dmitrij Leltschuk/laif/picturedes­k.com ?? Ein usbekische­r Gastarbeit­er entfernt Schmutz von seinen Füßen. Der Mann verdingt sich an einer Baustelle. .
Dmitrij Leltschuk/laif/picturedes­k.com Ein usbekische­r Gastarbeit­er entfernt Schmutz von seinen Füßen. Der Mann verdingt sich an einer Baustelle. .
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria