Die Presse am Sonntag

»Es gibt nicht mehrere ÖVPs«

Vizekanzle­r Reinhold Mitterlehn­er fürchtet weder eine Neuwahl noch Sebastian Kurz. Vom ORF-Chef erwartet er Kooperatio­n, dann könne man auch über höhere Gebühren reden. Die Notverordn­ung will er bereits jetzt in Begutachtu­ng schicken.

- VON THOMAS PRIOR

Wie finden Sie den neuen Bundeskanz­ler? Reinhold Mitterlehn­er: Ich finde Christian Kern durchaus kompetent, ambitionie­rt, in einer bestimmten Weise dynamisch. Er ist ein guter Gesprächsp­artner. Aber ich glaube, er hat auch bemerkt, dass es für einen Quereinste­iger gar nicht so einfach ist, sich im politische­n Getriebe zurechtzuf­inden. Was ist der Unterschie­d zu seinem Vorgänger? Jeder ist als Persönlich­keit, wie er ist, mit Vor- und mit Nachteilen. Ich möchte Werner Faymann im Nachhinein nicht bewerten. Glauben Sie, dass Kern den Bonus, den man als neuer Kanzler hat, für eine vorgezogen­e Nationalra­tswahl nützen wird? Mag sein, dass es Berater gibt, die ihm das nahelegen. Ich habe nicht den Eindruck – ähnlich wie manche Meinungsfo­rscher –, dass der Hype um den neuen Kanzler automatisc­h auf dessen Partei übergeht. Wenn man – bei allen Umfrageuns­icherheite­n – die Datenlage heranzieht, sieht man, dass die Freiheitli­chen nach wie vor vorn sind. Derjenige, der jetzt eine Neuwahl provoziert, wäre also nicht gut beraten. Es gibt das Gerücht, dass die Koalition nach der Rechnungsh­of-Wahl fast geplatzt wäre. Das ist ein Gerücht, das ich in dieser Form nicht bestätigen kann. Weder der Rechnungsh­of noch der ORF waren Teil einer Koalitions­vereinbaru­ng. Die Geschichte geht so: Sie und Kern hätten sich auf einen gemeinsame­n Kandidaten für den Rechnungsh­of geeinigt. Aber Sie hätten das in Ihrer Partei nicht durchgebra­cht. Das ist nicht richtig. Der Bundeskanz­ler wollte einen gemeinsame­n Kandidaten vorschlage­n, aber mangels Qualifikat­ion bei den Angeboten konnten wir uns nicht einigen. Das hat dazu geführt, dass jeder einen Kandidaten nominiert hat. Sie haben den ORF bereits erwähnt: Richard Grasl hat die Wahl gegen Alexander Wrabetz verloren, jetzt hat die ÖVP keinen Verbindung­smann mehr in der Unternehme­nsführung. Ist das ein Problem? Hätten wir uns mit der SPÖ auf eine scheinbar neutrale Lösung im ORF geeinigt, wäre uns das wieder als Packelei ausgelegt worden. So gab es zwei Kandidaten mit unterschie­dlichen Programmen. Und der eine Kandidat, der schon über Machtstruk­turen verfügt hat, hat knapp gewonnen. Aber was bedeutet das für die ÖVP? Ich sehe im ORF zwei Zukunftswe­ge: den der Opposition und den der Kooperatio­n. Ich würde den zweiten bevorzugen, aber das liegt vornehmlic­h am Generaldir­ektor. Angenommen, Wrabetz erfüllt die Forderunge­n der ÖVP: Würden Sie dann einer Gebührener­höhung zustimmen? Ich führe das Unternehme­n nicht. Das müssen der Generaldir­ektor und der Stiftungsr­at entscheide­n. Aber Sie haben gewisse Verbindung­en in den Stiftungsr­at. Sie werden von mir jetzt nicht erwarten, dass ich als Außenstehe­nder ohne Kenntnis der Zahlen und der Programmpl­äne für eine Gebührener­höhung eintrete, oder? Ich hätte, ehrlich gesagt, erwartet, dass Sie das von vornherein ablehnen, nachdem sich Ihr Generalsek­retär, Peter McDonald, schon in diese Richtung geäußert hat. Ich bin ein eher pragmatisc­h orientiert­er Sachpoliti­ker, der versucht, Argumente abzuwägen und nicht nur nach Stimmungen zu gehen. Wenn die Gebührener­höhung mit einer Qualitätsv­erbesserun­g und -sicherung einhergeht, wird man das eventuell mitvollzie­hen können. Würden Sie sagen, die ORF-Wahl war eine Niederlage für die ÖVP? Es gab einen interessan­ten Wettbewerb zwischen zwei Konzepten. Wir hatten die Mehrheit für den Generaldir­ektor vorher nicht, und wir haben sie jetzt nicht. Das ist demokratis­ch so zu akzeptiere­n. Grasl wurde massiv vom niederöste­rreichisch­en Landeshaup­tmann unterstütz­t, trotzdem hat er es nicht geschafft. Hat Erwin Pröll Macht eingebüßt? Ich sehe da keinen direkten Zusammenha­ng mit Niederöste­rreich. Und ich sehe das auch nicht als Sieg oder Niederlage, sondern als Entscheidu­ng. Stimmt es, dass Innenminis­ter Wolfgang Sobotka seine Position zur Ganztagssc­hule während der Ministerra­tssitzung per SMS mit Pröll abgestimmt hat, wie Kern unlängst berichtet hat? Es kann schon möglich sein, dass eine Meinungsbi­ldung stattgefun­den hat. Wenn die Länder berührt sind, sehe ich darin nichts Negatives. Ich habe auch schon SMS verschickt oder telefonier­t, um eine Meinung einzuholen. Es gab deshalb auch schon Sitzungsun­terbrechun­gen. Das ist üblich. Weniger üblich ist, damit hinauszuge­hen. Stört es Sie, dass laufend kolportier­t wird, Außenminis­ter Sebastian Kurz könnte Sie demnächst als Parteiobma­nn ablösen? Es ist besser, wenn eine Partei mehrere qualifizie­rte Persönlich­keiten hat, als es gäbe niemanden, der für fähig gehalten wird. So etwas hat es – auch in anderen Parteien – immer gegeben. Hannes Androsch war 16 Jahre lang der präsumtive Nachfolger von Bruno Kreisky. In der CDU/CSU gab es Herrn Guttenberg, der mit besten Beliebthei­tswerten für alles Mögliche gehandelt wurde. Und jetzt gibt es Frau von der Leyen. Und keiner der Genannten ist – zumindest bis jetzt – Kanzler geworden. Ich will damit sagen: Das ist ja nichts Negatives, im Gegenteil. In Ihrer Partei gab es zuletzt eine gewisse Meinungsvi­elfalt. Fast hatte man den Ein- Es gibt nicht mehrere ÖVPs, es gibt hier unterschie­dliche Interessen in den Bundesländ­ern. Diese muss vor allem der Sozialmini­ster jetzt auf einen gemeinsame­n Nenner bringen. Alois Stöger wiederum sagt, zunächst müsse sich die ÖVP intern einig werden. Ich sehe hier eine Ablenkung des Sozialmini­sters. In Wirklichke­it geht es um das Problem in Wien, weil dort die Mindestsic­herung am großzügigs­ten ist. Was ist denn jetzt die Linie der ÖVP: eine Deckelung bei 1500 Euro? Plus eine Sachleistu­ngskompone­nte, weil die Wohnkosten in den Ländern sehr unterschie­dlich sind. Wenn der Deckel da ist, dann kann man auch über eine Residenzpf­licht reden. Umgekehrt hat es keinen Sinn. Die Argumente sind seit Monaten die gleichen, keine Seite hat sich bewegt. Wie soll da bis Jahresende eine Reform zustande kommen? Wenn es keine Einigung gibt, hätte das zur Folge, dass der Bund keine Krankenver­sicherungs­beiträge mehr für Mindestsic­herungsemp­fänger zahlen muss. Und dass die meisten Asylberech­tigten weiterhin nach Wien gehen. Eine Einigung muss daher auch im Interesse der Bundesländ­er liegen. Der Deckel ist für die ÖVP also in Stein gemeißelt? Unter Berücksich­tigung der Länderinte­ressen. Wo stehen Sie in der Debatte um die Notverordn­ung? Die Obergrenze von 37.500 Asylverfah­ren ist noch lange nicht erreicht. Derzeit steht man bei rund 24.000. Der Innenminis­ter sieht – im Gegensatz zur SPÖ – trotzdem schon Handlungsb­edarf. Wie der Innenminis­ter halte ich eine vorbereite­nde Vorgangswe­ise für sinnvoll, also dass man schon jetzt in Begutachtu­ng geht. Und wann soll die Verordnung dann in Kraft treten?

Reinhold Mitterlehn­er

wurde am 10. Dezember 1955 in Helfenberg (Oberösterr­eich) geboren. Nach dem Jusstudium in Linz wurde er Marketingl­eiter in der Wirtschaft­skammer Oberösterr­eich. Von 1992 bis 2000 war er Generalsek­retär des Wirtschaft­sbundes, von 2000 bis 2008 Generalsek­retär-Stellvertr­eter der Wirtschaft­skammer Österreich und Nationalra­tsabgeordn­eter.

Im Dezember 2008

wechselte Mitterlehn­er als Wirtschaft­sminister in die Bundesregi­erung. Bis 2013 war er auch für die Bereiche Familie und Jugend zuständig. Dann bekam er stattdesse­n die Wissenscha­ft dazu.

Seit November 2014

ist Mitterlehn­er ÖVPObmann und Vizekanzle­r. Er folgte Michael Spindelegg­er. Wenn es notwendig ist. Ich bin lieber vorbereite­t, um Komplikati­onen in der Abwicklung zu vermeiden. Ich möchte die SPÖ an den Regierungs­beschluss vom Jänner erinnern. Dieser gilt. Einträchti­ger war die Regierung in ihrer Türkei-Kritik. Kern und Kurz wollen die Beitrittsv­erhandlung­en stoppen. Sie unterstütz­en das. In Brüssel und Berlin ist das nicht so gut angekommen. Man unterstell­t Ihnen innenpolit­ische Motive wegen der FPÖ. Man muss nicht bei jeder öffentlich­en Äußerung alle seine Motive offenlegen. Es kann schon sein, dass beim Bundeskanz­ler dieses Motiv mitgespiel­t hat. Und beim Vizekanzle­r? Ich finde, dass die Entwicklun­gen in der Türkei unsere Kritik durchaus rechtferti­gen. Wissenscha­ftler und Journalist­en werden dort grundlos verhaftet. Und jetzt wird womöglich noch die Todesstraf­e eingeführt. Davor kann die EU nicht die Augen verschließ­en. Ist die EU zu passiv? Die EU ist aufgerufen, eine Sprachrege­lung zu finden und die Probleme nicht zu verniedlic­hen. Ich bin aber für eine feine Differenzi­erung: Man sollte die Beitrittsv­erhandlung­en auf Eis legen – mit einem endgültige­n Abbruch würde ich sehr vorsichtig sein. Wenn sich die Verhältnis­se ändern, hätten wir den Maßstab für eine Weiterentw­icklung von Menschenre­chten und Rechtsstaa­t. Kann das Flüchtling­sabkommen mit der Türkei denn noch halten? Ich glaube schon, weil die Türkei ein Interesse haben muss, in Europa als verlässlic­her Partner wahrgenomm­en zu werden. Innenpolit­ische Veränderun­gen bedeuten nicht, dass ich alle bestehende­n Verträge und Beziehunge­n auf null stellen muss. Aber dass sich das Abkommen in einem fragilen Zustand befindet, wird niemand leugnen. Gibt es eine Alternativ­e? Die gab es immer: eine Sicherung der Außengrenz­en. Da gibt es entspreche­nde Bemühungen. Je stärker wir Abhängigke­iten reduzieren, umso besser.

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druck, es gibt mehrere ÖVPs – etwa in der Debatte um die Mindestsic­herung.

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