»Es gibt nicht mehrere ÖVPs«
Vizekanzler Reinhold Mitterlehner fürchtet weder eine Neuwahl noch Sebastian Kurz. Vom ORF-Chef erwartet er Kooperation, dann könne man auch über höhere Gebühren reden. Die Notverordnung will er bereits jetzt in Begutachtung schicken.
Wie finden Sie den neuen Bundeskanzler? Reinhold Mitterlehner: Ich finde Christian Kern durchaus kompetent, ambitioniert, in einer bestimmten Weise dynamisch. Er ist ein guter Gesprächspartner. Aber ich glaube, er hat auch bemerkt, dass es für einen Quereinsteiger gar nicht so einfach ist, sich im politischen Getriebe zurechtzufinden. Was ist der Unterschied zu seinem Vorgänger? Jeder ist als Persönlichkeit, wie er ist, mit Vor- und mit Nachteilen. Ich möchte Werner Faymann im Nachhinein nicht bewerten. Glauben Sie, dass Kern den Bonus, den man als neuer Kanzler hat, für eine vorgezogene Nationalratswahl nützen wird? Mag sein, dass es Berater gibt, die ihm das nahelegen. Ich habe nicht den Eindruck – ähnlich wie manche Meinungsforscher –, dass der Hype um den neuen Kanzler automatisch auf dessen Partei übergeht. Wenn man – bei allen Umfrageunsicherheiten – die Datenlage heranzieht, sieht man, dass die Freiheitlichen nach wie vor vorn sind. Derjenige, der jetzt eine Neuwahl provoziert, wäre also nicht gut beraten. Es gibt das Gerücht, dass die Koalition nach der Rechnungshof-Wahl fast geplatzt wäre. Das ist ein Gerücht, das ich in dieser Form nicht bestätigen kann. Weder der Rechnungshof noch der ORF waren Teil einer Koalitionsvereinbarung. Die Geschichte geht so: Sie und Kern hätten sich auf einen gemeinsamen Kandidaten für den Rechnungshof geeinigt. Aber Sie hätten das in Ihrer Partei nicht durchgebracht. Das ist nicht richtig. Der Bundeskanzler wollte einen gemeinsamen Kandidaten vorschlagen, aber mangels Qualifikation bei den Angeboten konnten wir uns nicht einigen. Das hat dazu geführt, dass jeder einen Kandidaten nominiert hat. Sie haben den ORF bereits erwähnt: Richard Grasl hat die Wahl gegen Alexander Wrabetz verloren, jetzt hat die ÖVP keinen Verbindungsmann mehr in der Unternehmensführung. Ist das ein Problem? Hätten wir uns mit der SPÖ auf eine scheinbar neutrale Lösung im ORF geeinigt, wäre uns das wieder als Packelei ausgelegt worden. So gab es zwei Kandidaten mit unterschiedlichen Programmen. Und der eine Kandidat, der schon über Machtstrukturen verfügt hat, hat knapp gewonnen. Aber was bedeutet das für die ÖVP? Ich sehe im ORF zwei Zukunftswege: den der Opposition und den der Kooperation. Ich würde den zweiten bevorzugen, aber das liegt vornehmlich am Generaldirektor. Angenommen, Wrabetz erfüllt die Forderungen der ÖVP: Würden Sie dann einer Gebührenerhöhung zustimmen? Ich führe das Unternehmen nicht. Das müssen der Generaldirektor und der Stiftungsrat entscheiden. Aber Sie haben gewisse Verbindungen in den Stiftungsrat. Sie werden von mir jetzt nicht erwarten, dass ich als Außenstehender ohne Kenntnis der Zahlen und der Programmpläne für eine Gebührenerhöhung eintrete, oder? Ich hätte, ehrlich gesagt, erwartet, dass Sie das von vornherein ablehnen, nachdem sich Ihr Generalsekretär, Peter McDonald, schon in diese Richtung geäußert hat. Ich bin ein eher pragmatisch orientierter Sachpolitiker, der versucht, Argumente abzuwägen und nicht nur nach Stimmungen zu gehen. Wenn die Gebührenerhöhung mit einer Qualitätsverbesserung und -sicherung einhergeht, wird man das eventuell mitvollziehen können. Würden Sie sagen, die ORF-Wahl war eine Niederlage für die ÖVP? Es gab einen interessanten Wettbewerb zwischen zwei Konzepten. Wir hatten die Mehrheit für den Generaldirektor vorher nicht, und wir haben sie jetzt nicht. Das ist demokratisch so zu akzeptieren. Grasl wurde massiv vom niederösterreichischen Landeshauptmann unterstützt, trotzdem hat er es nicht geschafft. Hat Erwin Pröll Macht eingebüßt? Ich sehe da keinen direkten Zusammenhang mit Niederösterreich. Und ich sehe das auch nicht als Sieg oder Niederlage, sondern als Entscheidung. Stimmt es, dass Innenminister Wolfgang Sobotka seine Position zur Ganztagsschule während der Ministerratssitzung per SMS mit Pröll abgestimmt hat, wie Kern unlängst berichtet hat? Es kann schon möglich sein, dass eine Meinungsbildung stattgefunden hat. Wenn die Länder berührt sind, sehe ich darin nichts Negatives. Ich habe auch schon SMS verschickt oder telefoniert, um eine Meinung einzuholen. Es gab deshalb auch schon Sitzungsunterbrechungen. Das ist üblich. Weniger üblich ist, damit hinauszugehen. Stört es Sie, dass laufend kolportiert wird, Außenminister Sebastian Kurz könnte Sie demnächst als Parteiobmann ablösen? Es ist besser, wenn eine Partei mehrere qualifizierte Persönlichkeiten hat, als es gäbe niemanden, der für fähig gehalten wird. So etwas hat es – auch in anderen Parteien – immer gegeben. Hannes Androsch war 16 Jahre lang der präsumtive Nachfolger von Bruno Kreisky. In der CDU/CSU gab es Herrn Guttenberg, der mit besten Beliebtheitswerten für alles Mögliche gehandelt wurde. Und jetzt gibt es Frau von der Leyen. Und keiner der Genannten ist – zumindest bis jetzt – Kanzler geworden. Ich will damit sagen: Das ist ja nichts Negatives, im Gegenteil. In Ihrer Partei gab es zuletzt eine gewisse Meinungsvielfalt. Fast hatte man den Ein- Es gibt nicht mehrere ÖVPs, es gibt hier unterschiedliche Interessen in den Bundesländern. Diese muss vor allem der Sozialminister jetzt auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Alois Stöger wiederum sagt, zunächst müsse sich die ÖVP intern einig werden. Ich sehe hier eine Ablenkung des Sozialministers. In Wirklichkeit geht es um das Problem in Wien, weil dort die Mindestsicherung am großzügigsten ist. Was ist denn jetzt die Linie der ÖVP: eine Deckelung bei 1500 Euro? Plus eine Sachleistungskomponente, weil die Wohnkosten in den Ländern sehr unterschiedlich sind. Wenn der Deckel da ist, dann kann man auch über eine Residenzpflicht reden. Umgekehrt hat es keinen Sinn. Die Argumente sind seit Monaten die gleichen, keine Seite hat sich bewegt. Wie soll da bis Jahresende eine Reform zustande kommen? Wenn es keine Einigung gibt, hätte das zur Folge, dass der Bund keine Krankenversicherungsbeiträge mehr für Mindestsicherungsempfänger zahlen muss. Und dass die meisten Asylberechtigten weiterhin nach Wien gehen. Eine Einigung muss daher auch im Interesse der Bundesländer liegen. Der Deckel ist für die ÖVP also in Stein gemeißelt? Unter Berücksichtigung der Länderinteressen. Wo stehen Sie in der Debatte um die Notverordnung? Die Obergrenze von 37.500 Asylverfahren ist noch lange nicht erreicht. Derzeit steht man bei rund 24.000. Der Innenminister sieht – im Gegensatz zur SPÖ – trotzdem schon Handlungsbedarf. Wie der Innenminister halte ich eine vorbereitende Vorgangsweise für sinnvoll, also dass man schon jetzt in Begutachtung geht. Und wann soll die Verordnung dann in Kraft treten?
Reinhold Mitterlehner
wurde am 10. Dezember 1955 in Helfenberg (Oberösterreich) geboren. Nach dem Jusstudium in Linz wurde er Marketingleiter in der Wirtschaftskammer Oberösterreich. Von 1992 bis 2000 war er Generalsekretär des Wirtschaftsbundes, von 2000 bis 2008 Generalsekretär-Stellvertreter der Wirtschaftskammer Österreich und Nationalratsabgeordneter.
Im Dezember 2008
wechselte Mitterlehner als Wirtschaftsminister in die Bundesregierung. Bis 2013 war er auch für die Bereiche Familie und Jugend zuständig. Dann bekam er stattdessen die Wissenschaft dazu.
Seit November 2014
ist Mitterlehner ÖVPObmann und Vizekanzler. Er folgte Michael Spindelegger. Wenn es notwendig ist. Ich bin lieber vorbereitet, um Komplikationen in der Abwicklung zu vermeiden. Ich möchte die SPÖ an den Regierungsbeschluss vom Jänner erinnern. Dieser gilt. Einträchtiger war die Regierung in ihrer Türkei-Kritik. Kern und Kurz wollen die Beitrittsverhandlungen stoppen. Sie unterstützen das. In Brüssel und Berlin ist das nicht so gut angekommen. Man unterstellt Ihnen innenpolitische Motive wegen der FPÖ. Man muss nicht bei jeder öffentlichen Äußerung alle seine Motive offenlegen. Es kann schon sein, dass beim Bundeskanzler dieses Motiv mitgespielt hat. Und beim Vizekanzler? Ich finde, dass die Entwicklungen in der Türkei unsere Kritik durchaus rechtfertigen. Wissenschaftler und Journalisten werden dort grundlos verhaftet. Und jetzt wird womöglich noch die Todesstrafe eingeführt. Davor kann die EU nicht die Augen verschließen. Ist die EU zu passiv? Die EU ist aufgerufen, eine Sprachregelung zu finden und die Probleme nicht zu verniedlichen. Ich bin aber für eine feine Differenzierung: Man sollte die Beitrittsverhandlungen auf Eis legen – mit einem endgültigen Abbruch würde ich sehr vorsichtig sein. Wenn sich die Verhältnisse ändern, hätten wir den Maßstab für eine Weiterentwicklung von Menschenrechten und Rechtsstaat. Kann das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei denn noch halten? Ich glaube schon, weil die Türkei ein Interesse haben muss, in Europa als verlässlicher Partner wahrgenommen zu werden. Innenpolitische Veränderungen bedeuten nicht, dass ich alle bestehenden Verträge und Beziehungen auf null stellen muss. Aber dass sich das Abkommen in einem fragilen Zustand befindet, wird niemand leugnen. Gibt es eine Alternative? Die gab es immer: eine Sicherung der Außengrenzen. Da gibt es entsprechende Bemühungen. Je stärker wir Abhängigkeiten reduzieren, umso besser.