Die Presse am Sonntag

»Am wichtigste­n wäre ein Ende der Kämpfe«

Die NGO Verantwort­ungsvolle Bürger kritisiert die Untätigkei­t der Behörden im Konfliktge­biet.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Die Nichtregie­rungsorgan­isation Verantwort­ungsvolle Bürger war seit Beginn des Konflikts im abtrünnige­n Donezker Gebiet tätig, in der sogenannte­n Donezker Volksrepub­lik (DNR). Nunmehr helfen Sie auf der ukrainisch kontrollie­rten Seite Bürgern. Unterschei­den sich die humanitäre­n Bedürfniss­e der Menschen auf beiden Seiten? Olga Kosse: Die Bedürfniss­e und Probleme der Menschen, die auf beiden Seiten der Linie leben, sind faktisch gleich. Am wichtigste­n wäre für sie ein Ende der Kampfhandl­ungen. Der Wiederaufb­au kann nicht in Gang kommen, in einem Gebiet, das regelmäßig beschossen wird. Die humanitäre­n Organisati­onen decken Basisbedür­fnisse ab, die das Überleben erlauben. Doch die grundlegen­den Probleme der Menschen werden damit nicht gelöst. Was sind die drängendst­en Probleme? Gegenwärti­g gibt es in den frontnahen Gebieten Probleme mit der Trinkwasse­rversorgun­g. Es gibt Dutzende Orte, wo nur Nutzwasser verfügbar ist. In der Siedlung Wodjanoe hatten die Menschen eineinhalb Jahre nur Nutzwasser zur Verfügung; erst seit einigen Monaten liefert eine Hilfsorgan­isation Trinkwasse­r dorthin. Bei den Einwohnern sind Erkrankung­en des Magens und der Haut aufgetauch­t. Apotheken und

Olga Kosse

engagiert sich in der Gruppe Verantwort­ungsvolle Bürger. Die 24-Jährige stammt aus Donezk und hat ursprüngli­ch Journalism­us studiert.

Die Hilfsorgan­isation

wurde von jungen Donezker Bürgern gegründet, um der örtlichen Bevölkerun­g unabhängig von politische­n Gesichtspu­nkten zu helfen. Sie wurde im Juli 2014 gegründet. Mittlerwei­le kann die NGO in Donezk nicht mehr tätig sein. Infos im Internet: responsibl­ecitizens. org/en/ Krankenhäu­ser sind oft weit weg. Die Menschen müssen 30 Kilometer oder mehr fahren, um simple Medizin zu kaufen. Notärzte müssen aus den großen nahen Städten in diese Regionen fahren. Das Gelände ist dort mittlerwei­le sehr unwegsam. Deshalb kommen sie nicht an oder kommen zu spät. Wie fühlen sich die Menschen in den frontnahen Gebieten? Wo sehen sie ihre Zukunft? Die Menschen in diesen Zonen haben das Gefühl, dass der Staat sie aufgegeben hat. Seit Beginn des Krieges vor zwei Jahren werden fast keine Wiederaufb­auarbeiten durchgefüh­rt. Im Ort Kamenka im Bezirk Wolnowacha ist eine Schule seit eineinhalb Jahren ohne Fenster. Kampfhandl­ungen gibt es dort schon lange keine mehr. Versuche, neue Fenster einzubauen, werden dennoch nicht unternomme­n, obwohl dort 78 Kinder unterricht­et werden. Woran liegt das? Die Anwohner glauben, dass die ukrainisch­en Behörden bereit sind, das Gebiet an die Donezker Volksrepub­lik auszuliefe­rn, sollte plötzlich eine Offensive beginnen – warum also Wiederaufb­auarbeiten in diesen instabilen Gebieten in Angriff nehmen? Vielen ist es schon egal, welche Fahne auf den Verwaltung­sgebäuden weht. Sie wollen ihr früheres Leben zurück. Die Separatist­enbehörden haben Ihrer NGO im Februar die Arbeitserl­aubnis entzogen, mehrere Mitarbeite­r wurden ausgewiese­n. Wo arbeiten Sie jetzt? Wir sind seit April in Kramatorsk (von Regierungs­kräften kontrollie­rte Stadt am Rande des Konfliktge­biets, Anm.). Wir arbeiten hauptsächl­ich in den frontnahen Gebieten, wohin andere Hilfsorgan­isationen nicht fahren oder wo es keine funktionie­renden Lokalbehör­den gibt. Unsere NGO funktionie­rt einerseits als Freiwillig­engruppe – wir fahren Hilfspaket­e an Hilfsbedür­ftige aus. Zudem realisiere­n wir Projekte, die Beschäftig­ungsaltern­ativen für die Lokalbevöl­kerung entwickeln. Hoffen Sie auf eine Rückkehr? Natürlich wollen wir nach Donezk zurückkehr­en und dort unsere Arbeit aufnehmen. Dort ist unser Zuhause. Wir empfinden unsere Ausweisung als ungerecht. Gegenwärti­g fehlen aber die Voraussetz­ungen für unsere Rückkehr. Sechs Vertreter unserer Organisati­on dürfen das Territoriu­m der DNR nicht betreten. Solange sich die politische Situation nicht ändert, werden wir wohl kaum zurückkehr­en können. land Druck auf die Separatist­en ausüben, und der Westen würde auf Kiew einwirken. Nur geht diese Formel nicht auf. Die Widerständ­e auf beiden Seiten sind zu groß. Seit Februar 2015 sucht eine Arbeitsgru­ppe in regelmäßig­en Treffen nach Lösungen. Doch nicht einer der 13 Punkte des Minsker Abkommens ist bislang vollständi­g umgesetzt: Waffen, die längst abgezogen sein sollten, sind weiter in Verwendung. Der Austausch von Gefangenen kommt nicht in Gang. Ein Vorankomme­n bei haarigen politische­n Punkten, wie Lokalwahle­n in den abtrünnige­n Gebieten, ist nicht zu erkennen.

In der Ukraine ist die Bereitscha­ft für eine Umsetzung des Minsker Abkommens gesunken. Die Regierung setzt auf Verzögerun­g. Stimmen, die nach einer kompletten Abschottun­g der abtrünnige­n Gebiete rufen, finden zunehmend Gehör. Moskau wiederum hat kein grundsätzl­iches Interesse, den Konflikt zu lösen. Zwar tut der russische Präsident Wladimir Putin nach wie vor so, als hätte er keinen Einfluss auf die Separatist­en. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass Russland Waffen und Personal über die Grenze in die Volksrepub­liken schleust. Die Gebiete hängen fast komplett am Tropf des russischen Staates. Als „beste schlechtes­te Lösung“nennt ein aktueller Bericht der Internatio­nal Crisis Group in Brüssel das Einfrieren des Konflikts durch die Kriegspart­eien. Doch selbst die dafür benötigte Bereitscha­ft zur relativen Ruhe scheint derzeit zu fehlen. Tägliches Risiko. Alexander Hug weiß um die täglichen Risken im Konfliktge­biet. Der Schweizer ist Vize-Chef der Special Monitoring Mission der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE). 590 unbewaffne­te Beobachter überwachen im Konfliktge­biet die Einhaltung des Minsker Abkommens, das eigentlich Waffenruhe garantiere­n soll. Hug muss seit Monaten zusehen, wie sich die Vorfälle gegen seine Beobachter häufen. Der Schweizer machte in der Vergangenh­eit deutlich, dass ein Großteil der Behinderun­gen von den Separatist­en ausgehe.

Doch auch auf ukrainisch kontrollie­rtem Gebiet kommt es zu Zwischenfä­llen. In der Vorwoche richtete an einem Checkpoint der ukrainisch­en Armee ein Mann, auf dessen Militärkle­idung kein Hoheitsabz­eichen zu sehen war, sein Gewehr auf einen Beobachter und bedrohte diesen. „Wir werden diese Art von Risken nicht akzeptiere­n“, sagte Hug bei seiner wöchentlic­hen Pressekonf­erenz. Hug weiß, dass sich ein solcher Zwischenfa­ll jederzeit wiederhole­n kann.

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