Der Anti-Trump von Hillary Clinton
Der demokratische Vizekandidat Tim Kaine soll im Wettstreit um das Weiße Haus jene undogmatischen Wähler ansprechen, die von Sudelkampagnen angewidert sind. Selbst seine Gegner preisen den Mann, der noch keine Wahl verloren hat.
Virginia brütet in der Schwüle eines Augustabends, doch in der Turnhalle der Huguenot High School am Westrand von Richmond wird US-Senator Tim Kaine nicht müde, im Schweiße seines Angesichts die „Frohbotschaft“zu verkünden: „Wenn man an die Wähler von Virginia glaubt, wird man keine schlechte Meinungsumfrage sehen. Man wird Virginia gewinnen, und man wird Präsident werden!“, ruft der 58-jährige frühere Jesuitenzögling, einstige Missionar und Absolvent der Harvard Law School in den Saal, dessen Klimaanlage den Kampf gegen die animalische Wärme von 2000 Menschen aufgegeben hat.
In der Tat stehen die Umfragen für die demokratische Präsidentschaftsanwärterin Hillary Clinton, deren Vizekandidat Kaine ist, ausgezeichnet. In Virginia liegt sie im Durchschnitt mit acht Prozentpunkten vor ihrem republikanischen Gegner, Donald Trump. In den beiden jüngsten Erhebungen in der ersten Augustwoche betrug Clintons Vorsprung gar zwölf und 13 Prozentpunkte. Zum Vergleich: Präsident Barack Obama lag in Virginia im Jahr 2008 etwas mehr als sechs Prozentpunkte vor John McCain und 2012 knapp vier Punkte vor Mitt Romney. Normalerweise ist ein zweistelliger Rückstand in den Umfragen drei Monate vor einer amerikanischen Präsidentenwahl kaum aufzuholen.
Doch was ist normal in einem Wahljahr, das die beiden beim Volk mit Abstand unbeliebtesten Kandidaten um die Präsidentschaft rittern lässt? Die einzige Gewissheit für Clinton ist das Misstrauen der Mehrheit der Amerikaner. Das erklärt, wieso sie Tim Kaine zu ihrem Vizekandidaten erkoren hat. Sie braucht einen untadeligen Partner, der jene Wähler ansprechen kann, die keiner der beiden Parteien angehören und sich von den zunehmend degoutanten Negativkampagnen abgestoßen fühlen.
Kaine scheint für diese Rolle des erzkorrekten Brückenbauers bestens geeignet. Als seine Ernennung verkündet wurde, schrieb der republikanische Senator Jeff Flake auf Twitter: „Versuche, all die Weisen zu zählen, auf die ich Tim Kaine hasse. Finde keine einzige. Glückwunsch für einen guten Mann und guten Freund.“
Toni-Michelle Travis, Politikprofessorin an der George Mason University und Autorin des „Almanac of Virginia Politics“, sieht das ebenso. „Ich glaube, er kommt mit jedem aus. Er ist der Typ von Mensch, den man als Nachbarn haben möchte“, sagt sie zur „Presse am Sonntag“.
Ted Peebles, der die Rede Kaines außerhalb des überfüllten Turnsaals via Lautsprecher verfolgt („Ich wusste, dass er hier viele Freunde hat – aber nicht so viele“), veranschaulicht dessen Wesen anhand einer Begebenheit, die 18 Jahre zurückliegt. Im Oktober 1998 zog der Hurrikan Mitch eine Spur der Verwüstung durch Zentralamerika. Allein in Honduras starben mehr als 7000 Menschen. Peebles, ein Spanischprofessor an der Universität von Rich- mond, organisierte mit seinen Studenten eine Spendensammlung. „Unser Lager war bis unter die Decke voll, und wir fragten uns, wie wir all die Sachen nach Honduras schaffen sollten.“Dann erhielt er einen Anruf aus dem Büro des damaligen Bürgermeisters von Richmond, Tim Kaine. Er hatte rasch und unbürokratisch den Chiquita-Konzern dazu bewogen, sieben oder acht große Lastwagen abzustellen, mit denen die Hilfsgüter nach Honduras transportiert wurden.
Das Land liegt ihm am Herzen. Kaine hatte 1980 sein Jusstudium in Harvard für neun Monate unterbrochen, um in Honduras in einer Jesuitenmission zu arbeiten. Dort brachte er Jugendlichen Möbelbau und Schweißen bei: Fähigkeiten, die er in der Firma seines Vaters in Kansas City gelernt hatte. Im Gegenzug eignete er sich Spanisch an, und zwar so gut, dass er 2013 im Senat eine Rede in dieser Sprache hielt. „Er fährt noch immer einmal im Jahr nach Honduras – aber er redet nicht darüber“, sagt Peebles. „Er ist der Anti-Trump.“ Enge Familienbande. Ob Kaine gezielt hispanische Wähler gewinnen soll, ist offen – zumal ihre Unterstützung für Clinton ohnehin größer ist, als sie es für Obama damals schon war. Auch die Annahme, Kaine solle weiße Männer ohne Collegeausbildung ansprechen – Trumps stärkste Anhängerschicht –, dürfte irrig sein, meint die Maklerin Kitty Snow. „Es tut mir leid, aber da führen die Demokraten einen aussichtslosen Kampf“, sagt sie. Doch Snow verkörpert selbst jene ideologisch offene Zielgruppe, für die Kaine interessant ist.
Snow hat zu seiner Kundgebung das Programmheft einer Wahlveran- staltung des republikanischen Politikers A. Linwood Holton Jr. aus dem Jahr 1970 mitgebracht: „Das war meine erste politische Erfahrung.“Holton wurde damals zum Gouverneur von Virginia gewählt und erwarb sich um die Aufhebung der Rassentrennung große Verdienste, indem er seine Töchter auf eine mehrheitlich schwarze Schule schickte. Eine davon, Anne, lernte später in Harvard Kaine kennen und lieben. Seit 32 Jahren sind sie verheiratet. Anne Holton war Anwältin für Pflegschaftssachen, später Virginias oberste Jugendrichterin und zuletzt Bildungsministerin. Sohn Nat, das älteste ihrer drei Kinder, dient derzeit als US-Marine für die Nato in Osteuropa.
Kaine hat noch nie eine Wahl verloren. Jene zum Bürgermeister einer der gewalttätigsten Städte der USA war für die Afroamerikanerin Bernadette Huggins am wichtigsten: „Er hat Richmond vereinigt, brachte Hilfe von außen. Wenn man jeden Tag einen Mord hat, greift man nach jedem Strohhalm.“Den Vorwurf, Kaine sei zu langweilig, wischt sie beiseite: „Ich wähle langweilig. Ich bin nämlich auch langweilig. Er ist ein normaler Typ, der eine Familie hat und sonntags im Kirchenchor singt. Er ist wie wir.“
Der Schwiegervater war republikanischer Gouverneur, der Sohn ist US-Marine.