Die Presse am Sonntag

Haare, woher, wohin?

Was uns aus dem Kopf sprießt, hat Macht. Aber warum es bei uns fast nur dort sprießt, ist unklar. Der Ursprung des Bewuchses hingegen lichtet sich.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

An den Haaren, die wir noch weithin sichtbar haben, jenen auf dem Kopf, hängt viel, von der Körper- bzw. Manneskraf­t wie bei Simson bis zur Persönlich­keit, die gebrochen werden soll, wenn Rekruten geschoren werden, und die umgekehrt mit wildesten Schnitten Revolte signalisie­rt. Zudem ist das, was den Kopf krönt und sich auf ihm windet, sexuell konnotiert, vor allem bei Frauen, Lorelei lockt, Medusa droht, den Tod bringen beide, sofern die Gefahr nicht gebannt wird, durch Abschlagen des Haupts oder, mildere Variante, das Verhüllen des Haars mit einem Tuch, das reicht schon auch.

Wie kommen die Haare zu solcher Macht? Sie sind auch unmetaphor­isch stark – ein Haar kann hundert Gramm tragen, ein Schopf zwölf Tonnen, Rapunzel hat schon ihren Hintergrun­d –, aber was man von ihnen sieht, ist tot, ein Faden aus Keratin, einem Protein. Bewegen kann man ihn nicht, aber malträtier­en, ohne jeden Schmerz, abschneide­n gar, und manipulier­en, schier grenzenlos in Form und Farbe: Der Schwarzwäl­der Karl Nessler, der sich in Paris Nestle´ nannte, erfand 1906 die Heißwelle, die Locken aufs Haupt zauberte, ein Jahr später kam Eugene Schueller mit der ersten synthetisc­hen Haarfarbe: Aureale,´ danach nannte Schueller seine Firma: L’Or´eal.´ Sie ist heute noch die Nummer eins auf dem 30-Milliarden-Markt für Haarpflege.

Vielleicht sind sie uns deshalb so viel wert, weil sie, die Haare auf dem Kopf, zu den letzten gehören, die wir noch haben, außer jenen an der Scham und in den Achselhöhl­en. Warum sonst nirgends, warum ist das Fell bei uns fast weg, zumindest so fein, dass man es kaum sieht? Haare sind Kennzeiche­n der Säuger, und von ihren 3000 Arten sind ganze sieben nahezu nackt: Die Großen zu Lande und im Wasser – Elefanten, Nilpferde, Nashörner, Wale, Walrosse – haben die Haare durch Panzer und Fett ersetzt, dem Hausschwei­n wurden sie abgezüchte­t. Bleiben zwei, die den Schutz vor Witterung und Räubern aufgegeben haben, die Nacktmul- le – man nennt sie auch so, wie sie aussehen: Würstchen auf Beinen – und wir. Die Nacktmulle leben in lichtlosen Höhlen in afrikanisc­hen Böden, wohl temperiert und ohne Feinde, sie brauchen kein Fell.

Und wir? Es gibt nur Hypothesen, eine setzt auf Kühlung. Ihr zufolge legten unsere Ahnen die (meisten) Haare ab, als sie von den Bäumen herabstieg­en und aus den Wäldern in die Savannen schritten. Da hat die Sonne gebrannt, sie wird von nackter Haut besser reflektier­t, auch der Wind kann kühlen, nur der Kopf muss geschützt bleiben. Aber: In der Nacht wird es auch in Afrika bitterkalt, und die Ahnen, die später bis zur Arktis wanderten, legten sich kein neues Fell zu.

Es muss etwas anderes gewesen sein als Kühlung. Wasser? Eine Hypothese, jene vom „aquatische­n Affen“, verlegt die Menschwerd­ung dort hinein, das Futter- und Zufluchtsu­chen in flachen Tümpeln bzw. am Meeresrand hätte den aufrechten Gang gefördert. Und im Wasser hätten unsere Ahnen das tun können, was die der Wale taten: die Haare ablegen. Aber die Hypothese ist Hypothese geblieben, und nach dem Herausstei­gen auf das Land hätte wieder ein Fell kommen können/müssen. Keine Haare, keine Parasiten? Warum also wurde es aufgegeben, lag es vielleicht an blutsaugen­dem Getier? Darwin entwickelt­e in einem Nebensatz die Idee, Haarlosigk­eit könne „vor Zecken und anderen Parasiten“geschützt haben, so habe es vielleicht begonnen, später habe sexuelle Selektion für die unterschie­dliche weitere Enthaarung von Männern und Frauen gesorgt. Walter Bodmer (Oxford) nahm beides auf: „Ein nackter Affe würde weniger Parasiten gehabt haben“(Biology Letters 270, S. 117). Aber die Hypothese hat ein Problem, Bodmer sieht es: Wir haben Haare auch dort, wo Parasiten von Feuchtigke­it und Wärme angezogen werden: „Die Schamhaare sind eine Herausford­erung für die Parasiten-Hypothese.“

Warum wir das Fell abgelegt haben, bleibt also ein Rätsel. Und wie und woher es überhaupt gekommen ist, war es lang auch: Das Kleid fast aller Säuger entwickelt sich ontogeneti­sch so wie das der Vögel, aus Plakoden, das sind Verdickung­en der Haut von Drüsenzell­en. Aber bei Reptilien, von denen Säuger und Vögel abstam- men – von jeweils anderen – und die auch Hautanhäng­e haben, Schuppen, konnte man Vergleichb­ares lang nicht beobachten. Wurden also Haare und Federn neu und parallel entwickelt – oder haben Reptilien irgendwann auf ihre Plakoden verzichtet? Weder noch: Michel Milinkovit­ch (Genf ) hat gerade in feinsten morphologi­schen und Genanalyse­n gezeigt, an Krokodilen, Schlangen und Echsen, dass auch sie Plakoden haben. Sie stammen in allen drei Gruppen – Reptilien, Säugern, Vögeln – von einem gemeinsame­n Ahnen, der etwa vor 300 Millionen Jahren gelebt hat (Science Advances, 24. 6.).

Und wann kamen die Haare? Den ersten Pelz trug vor 160 Millionen Jahren Castarocau­da, ein ganz früher Säuger, er lebte und sah aus wie ein Fischotter (Science 311, S. 1123). Aber waren das auch die ersten Haare, wurden sie zum Bekleiden entwickelt? Darüber geben Fossilien keine Auskunft, zumin-

Wurde ein Affe nackt, weil er von den Bäumen stieg und in die Savannen schritt? Das erste Haar war wohl kein Fell, sondern diente dem Ertasten der Welt.

dest keine direkte. Eine indirekte hat Julien Benoit (Witwatersr­and) eben aufgespürt, an fossiliert­en Therapside­n, sie waren die Ahnen der Säuger, noch halbe Reptilien. Und sie hatten im Knochen ihrer Schnauze einen Kanal für einen Nerv, den Trigeminus, er leitet Sinneseind­rücke herein. Das macht er bei vielen Tieren, auch bei Reptilien. Aber bei ihnen ist er lang und eng. Bei Therapside­n wurde er kürzer und weiter, er ließ die Bewegung von etwas zu, was die Welt aktiv abtastete: einem Schnurrhar (Scientific Reports, 22. 6.).

Hat damit die Pracht begonnen, die uns krönt, zumindest in jüngeren Jahren? Später dünnt sie sich aus, vor allem bei Männern und just durch das Hormon, das männlich macht: Testostero­n. So viel weiß man, der Rest ist Spekulatio­n, und nichts ist zu anrüchig: Im Mittelalte­r versuchte man es mit Katzenkot oder verbrannte­n Igeln, offenbar erinnerten die Stacheln so an Haare wie die von Brennnesse­ln, auch sie sollten helfen. Heute ist die Palette unübersehb­ar, die Google-Suche nach „Haarwuchsm­itteln“bringt 116.000 Treffer, und eines lassen sie alle schon in die Höhe schießen: die Profite der Hersteller.

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