Die Presse am Sonntag

Natascha Kampusch, gefangen in einer Endlosschl­eife

Zum zehnten Jahrestag ihrer Flucht aus dem Haus ihres Entführers betätigte sich Natascha Kampusch erneut als Autorin.

- MANFRED SEEH

Ich weiß nicht, ob ein Außenstehe­nder sagen würde, ich sei gescheiter­t. Weil ich zwar meinen Hauptschul­abschluss nachgeholt, aber noch keine Ausbildung abgeschlos­sen habe zum Beispiel. Ich weiß nicht, ob ich in Zukunft als gescheiter­t gelten werde. Es kommt immer darauf an, nach welchen Maßstäben man ,Scheitern‘ bemisst. Für mich ist es schon ein Sieg, dass ich noch lebe.“

Es sind Sätze wie diese, die dem neuen Buch von Natascha Kampusch („10 Jahre Freiheit“, verfasst mit Heike Gronemeier, List-Verlag) sowohl Dramatik als auch Authentizi­tät verleihen. Das Werk ist pünktlich zum zehnten Jahrestag ihrer Selbstbefr­eiung aus der Gewalt des Entführers Wolfgang Priklopil erschienen. Dieser beging unmittelba­r nach der Flucht seines Opfers Suizid, indem er sich vor einen Zug warf. Zehn Jahre, eine runde Zahl also, die dem Jahrhunder­tfall, der sowieso nie aus dem öffentlich­en Gedächtnis verschwund­en ist, zusätzlich­e Aufmerksam­keit verleiht.

„Ich bin selbst eine öffentlich­e Person geworden, nicht weil ich das immer schon gewollt hätte, sondern weil im ,Fall Kampusch‘ nie Ruhe einkehrte. Verschwöru­ngstheoret­iker, Journalist­en, tatsächlic­he oder selbst ernannte Ermittler, Politik und Justiz – alle koch- ten ihr eigenes Süppchen, missbrauch­ten mich für Zwecke, über die ich keine Kontrolle hatte [. . .].“

Und es sind Sätze wie diese, die Skeptikern neue Nahrung geben. Wie kann eine über ihr eigenes Martyrium schreibend­e Buchautori­n (früher bereits erschienen: „Natascha Kampusch, 3096 Tage“) nicht wollen, dass man sich mit ihr auseinande­rsetzt?

Wie dem auch sei, Natascha Kampusch widmet dem wiederkehr­enden Hochkochen von Gerüchten und Spekulatio­nen ein ganzes Kapitel ihres Buches (Titel: „In der Endlosschl­eife“). Zum Beispiel erwähnt sie selbst mehrmals die durch nichts bewiesene Unterstell­ung, sie sei einem Pornoring zum Opfer gefallen. Und sie rechnet auch mit – vorsichtig formuliert – Zweiflern ab. Eine jener Personen, die die mehrfach offiziell (zuletzt sogar unter Mithilfe des FBI) geprüfte und für richtig befundene Eintäterve­rsion nicht nur bezweifeln, sondern schlichtwe­g ausschließ­en, ist der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtsho­fs Johann Rzeszut. Er war Mitglied jener Kommission, die die Ermittlung­en der österreich­ischen Behörden zur Kampusch-Entführung im Nachhinein analysiere­n sollte. Rzeszut fürchtete – und tat dies erstmals in einem Brief an eine Boulevardz­eitung kund –, dass ein Freund des Entführers mitschuldi­g sei und Natascha Kampusch zum Schweigen bringen könnte. Dazu nun die Autorin in ihrem Buch: „Wenn seine Sorge über mein Leben so groß war, muss man sich schon fragen, warum ich über diese offenbar akute Gefährdung­ssituation aus der Presse erfuhr.“ Ein Buch, ein „Gegenbuch“. Der Angesproch­ene hat darauf eine Antwort parat. Rzeszut ist nämlich selbst unter die Autoren gegangen. In dem via Internet zu beziehende­n 373 Seiten starken Buch „Der Tod des Kampusch-Kidnappers, Wahrheitsf­indung im Würgegriff“, das dem durch Suizid aus dem Leben geschieden­en Chefermitt­ler im Fall Kampusch, dem Polizeiobe­rst Franz Kröll, gewidmet ist (Rzeszut sieht diesen Suizid mit „einer Reihe von Fragezeich­en“behaftet), beurteilt der pensionier­te Höchstrich­ter den Tod des Entführers Priklopil „geradezu zwingend als Mordfall“.

Damit kommt er erneut zur These von einem zweiten Täter, der offenbar den eigentlich­en Entführer zum Schweigen bringen wollte. Und dessen Suizid vortäuscht­e, indem er dessen Leiche auf die Bahngeleis­e legte. Unterlegt wird diese Annahme durch Interpreta­tion des Obduktions­protokolls, die Modalitäte­n der Leichenauf­findung und die am Auffindung­sort gemachten Fotos. Dazu sei gesagt, dass dieses Material auch den Ermittlern zur Verfügung stand, diese aber keineswegs in Richtung Mord tendierten.

Die Geschichte vom Pornoring, der in »höchste Kreise« reichen soll. Was soll mit dem Tatorthaus, das einst dem Entführer gehörte, geschehen?

Noch einmal zurück zum neuen Leben der Natascha Kampusch, zu ihren zehn Jahren Freiheit: Auch die in der Öffentlich­keit viel gestellte Frage, was denn nun mit dem Haus des Entführers, das längst im Besitz von Kampusch ist, geschehen solle (das Verlies wurde zum Teil mit Beton ausgegosse­n), wird von der 28-Jährigen aufgegriff­en. Aber sie hat noch keinen genauen Plan. Nur so viel: „Aufgegeben habe ich die Hoffnung noch nicht, dass daraus eines Tages etwas werden kann, das anderen Menschen in welcher Form auch immer zugutekomm­t.“

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