Die Presse am Sonntag

Das Wunder am Fuße des wilden Kaukasus

Vor Kurzem noch war Georgien die Hochburg der Mafia und Korruption. Beides wurde radikal ausgerotte­t, das Land zum Leuchtturm des Liberalism­us. Eine Reportage über One-Stop-Windows, Amphorenwe­in und Gebrauchtw­agen aus Europa.

- VON EDUARD STEINER

Das georgische Wunder beginnt mitten in der Hauptstadt Tiflis unter den „Pilzen“. So nennt man im Volksmund die vom italienisc­hen Architekte­n Massimilia­no Fuksas entworfene Dachkonstr­uktion der Public Service Hall. Geschwunge­n wie Pilzkappen greift sie in den Raum und bietet Schatten, wenn die Temperatur­en wieder auf 40 Grad steigen. Im Inneren tummeln sich schneidige junge Frauen in schnittige­n Kostümen und Damenkrawa­tten. Wer auf die Erledigung seiner Bürgeranli­egen etwas warten muss, bekommt auf Wunsch Kaffee, kleine Snacks oder große Menüs serviert.

Es ist so gar nicht das Bild, das man gemeinhin mit dem Kaukasus verbindet. Krieg und Korruption, Mafia und Steinzeitm­entalität, Bürokratie­sumpf und Patriarcha­t prägen die Vorstellun­g vom Landstrich mit den mächtigen Fünftausen­dern hinter dem Schwarzen Meer. Das kommt nicht von ungefähr, wie auch Georgiens Geschichte zeigt.

In der Tat hat eine schikanöse Bürokratie, wie sie alle Ex-Sowjetstaa­ten kennzeichn­ete, auch Georgien lang im Würgegriff gehalten. Eine katastroph­ale Korruption war die Folge. Schlimmer noch: Georgien galt als Hochburg der Mafia, die im Inland den Ton angab und von dort aus ihr internatio­nales Spinnennet­z flocht. Einer der spektakulä­rsten Höhepunkte ereignete sich am 11. Juli 1996: Mitten in der Wiener Innenstadt wurde der georgische Pate David Sanikidze von einem rivalisier­enden Clan erschossen. „Hat man in Georgien noch vor zehn Jahren gefragt, was junge Männer werden wollen, so nannten sie kriminelle Autorität an erster Stelle“, erzählt Lewan Nebieridze, Wirtschaft­sprofessor und Speditions­unternehme­r in Tiflis, im Gespräch: „Und Mädchen sahen sich gern als künftige Gangsterbr­aut.“

Heute ist Korruption zum absoluten Fremdwort geworden. Die Mafia hat das Land verlassen oder sitzt im Gefängnis. Der Staat hat eine gesellscha­fts- und wirtschaft­sliberale Gesetzgebu­ng geschaffen und sieht sich als Dienstleis­ter am Bürger. Im Tifliser „Pilz“-Gebäude, dem Symbol der Systemrefo­rm, und den anderen Servicezen­tren im Land sind alle Behörden gebündelt und zur blitzartig­en Erledi- gung der Bürgeranli­egen angewiesen. Was für einfache Menschen gilt, gilt für Unternehme­r umso mehr. Im Wissen, dass nur sie Arbeitsplä­tze schaffen, werden sie vom Staat besonders umgarnt. Wer eine Firma gründen will, muss dafür lediglich 15 Minuten beim One-Stop-Window einplanen. Nach drei Stunden wird ihm die Eintragung ins Firmenregi­ster per SMS bestätigt und automatisc­h ein Bankkonto eröffnet. „Georgien hat sich gedreht, das Bewusstsei­n ist heute anders“, so Nebieridze: „Die Leute wissen, dass das meiste von ihnen selbst abhängt. Es ist wie im liberalen Estland: Der Staat hat sich völlig zurückgeno­mmen.“

Die wundersame Verwandlun­g begann Ende 2003 mit der sogenannte­n Rosenrevol­ution, die das autoritäre Regime hinwegfegt­e und den ungestümen Jungpoliti­ker Micheil Saakaschwi­li nach oben spülte. Saakaschwi­li packte die Gelegenhei­t beim Schopf und vollzog einen radikalen Systemwech­sel, indem er die staatliche­n Institutio­nen stärkte und so einen Rückfall ins alte System unmöglich machte. Gewiss, seine Methode war brachial und er selbst nicht frei von autoritäre­n Zügen, weshalb er 2013 auch abgewählt wurde. Aber sie war vom Prinzip geleitet, dass sich eine Mehrheit nicht von einer Minderheit terrorisie­ren lassen dürfe. Nulltolera­nz. Mit einem Handstreic­h entließ er die gesamte korrupte Polizei, schrieb ein neues Einstellun­gsverfahre­n und rief eine Politik der Nulltolera­nz bei Korruption aus. Jede Amtshandlu­ng wird heute auf Video aufgezeich­net, schon auf Bestechung­sversuche stehen jahrelange Haftstrafe­n. Der neue Bericht der Internatio­nal Finance Corporatio­n (Teil der Weltbank-Gruppe) gibt das Korruption­sniveau in Georgien mit beinahe null Prozent an.

Auch gegenüber der Mafia verkündete Saakaschwi­li null Toleranz, manch ein Mitglied wurde einfach erschossen, andere in eine ausweglose Lage versetzt. Das geht so: Beim Verhör wird ein „Dieb im Gesetz“, so der Titel für die höchste Autorität im Clan, über seine Zugehörigk­eit zur Mafia befragt: Leugnet er, ist er im Clan degradiert bzw. zum Abschuss freigegebe­n; bejaht er, geht er für Jahre hinter Gitter, ehe er wieder befragt wird. Das alles hat die Mafiaclans nicht ganz ausgerotte­t, aber sie haben das Land Richtung Russland, Ukraine oder auch Richtung Westen verlassen. Auf Georgiens Straßen ist es seither sicher wie in Berlin. Der letzte Autodiebst­ahl liegt Jahre zurück.

Millionen

Einwohner zählt der Ex-Sowjetstaa­t Georgien.

tausend

Quadratkil­ometer Fläche umfasst das Land inklusive der beiden von Russland besetzten Gebiete Abchasien und Südossetie­n. Ohne diese Gebiete sind es 57.215 Quadratkil­ometer.

Mrd. Dollar

(12,4 Mrd. Euro) betrug das Bruttoinla­ndsprodukt zu laufenden Preisen im Vorjahr.

Prozent

machte die Arbeitslos­enrate im Vorjahr aus.

Milliarden

Dollar wurden 2015 im georgische­n Außenhande­l umgesetzt. Die Handelsbil­anz ist stark negativ.

Milliarden

Dollar flossen im Vorjahr an ausländisc­hen Direktinve­stitionen ins Land.

Der Mann, der wie kein zweiter wusste, was Reformwill­en heißt, ist 2014 an Herzversag­en gestorben. Sein Millionenv­ermögen hatte Kacha Bendukidze in Russland gemacht, ehe er als Reformmini­ster nach Georgien gerufen wurde. „Man kann alles verkaufen, nur nicht sein Gewissen“, hat er vor seinem Tod im Gespräch mit der „Presse“noch gesagt. Tatsächlic­h ließ er Hunderte Betriebe privatisie­ren und eine radikale Deregulier­ung umsetzen. Aus 21 Unternehme­nssteuern wurden sechs, die 900 Arten von Gewerbeber­echtigunge­n wurden eliminiert. Der Erfolg stellte sich umgehend ein. Das Land schoss im Geschäftsk­limaindex der Weltbank, Doing Business, von Platz 137 auf Platz 18 hoch. Aktuell hält es immerhin noch bei Platz 24. Vor allem die Leichtigke­it bei der Firmengrün­dung in den Public Service Halls bringt Spitzenbew­ertungen.

Die Suche nach dem georgische­n Wunder führt uns in die Stadt Rustavi, 30 Kilometer südlich von Tiflis. Kühe und Schafe säumen hier wie überall im Land die Straße und legen sich auch schon einmal auf einen der Fahrstreif­en. Schnell ist ohnehin kein Auto unterwegs, denn noch fehlt Geld für die Infrastruk­tur. Aus Schlaglöch­ern sind stellenwei­se Schlaggrub­en geworden.

Vor einigen Jahren hat man den berühmten Gebrauchtw­agenmarkt von Tiflis nach Rustavi verlegt. Nach wie vor ist es Europas größter seiner Art. Was im Westen an Autos nicht mehr gebraucht wird, landet vielfach hier und wird in die umliegende­n Länder weiterverk­auft. Vor der Einfahrt auf das Gelände werden die Autos auf etwaigen Diebstahl gecheckt. In den besten Zeiten zu Beginn der Reformen habe die Zollabfert­igung und Registrier­ung drei Minuten gedauert, erzählt Gela, einer der Händler. Inzwischen sei nicht nur der Schlendria­n etwas zurückgeke­hrt, auch der Verkauf gestalte sich seit 2014 zäh, so der 46-Jährige. „Früher wechselten hier 5000 Autos pro Woche den Besitzer, derzeit sind es weniger als die Hälfte.“Das liegt vor allem am Ölpreisver­fall, der den Ölstaat Aserbaidsc­han schwer trifft. Die Azeris waren zuvor die finanzstär­ksten Kunden. Der Reexport der importiert­en Autos, immerhin Georgiens zweitstärk­ster Exportpost­en nach den Kupfererze­n, ist im ersten Halbjahr um ein Viertel eingebroch­en. In der Tat sind die BIP-Traumwachs­tumsraten von zehn Prozent aus der Zeit vor 2008 vorbei. Und nur, weil das Land zu einer Demokratie und einer liberalen Marktwirts­chaft umgeschwen­kt hat, heißt das noch nicht, dass die Wirtschaft automatisc­h rund laufen muss. Immerhin scheint nun die Durststrec­ke vorbei. Im Vorjahr wurden 2,8 Prozent Wachstum erzielt. Krieg. Es war der von beiden Seiten verursacht­e Krieg mit Russland 2008, der das Land um Jahre zurückgewo­rfen hat. Dies auch, weil der starke Handelspar­tner Russland Importemba­rgen erlassen hatte und so manchen Exporteur in Georgien in den Ruin trieb. Wer überleben wollte, musste neue Märkte suchen und seine Produkte veredeln.

Alex Shaloshvil­i weiß ein Lied davon zu singen. Mitten in der ostgeorgis­chen Weinstraße von Kachetien betreibt er sein Gut und produziert jährlich etwa 150.000 Flaschen. „An den Geschmack unserer autochthon­en Reben und unserer traditione­llen Zubereitun­g muss sich der westliche Gaumen natürlich gewöhnen. Aber kürzlich habe ich ein erstes Dankschrei­ben von unseren Abnehmern in Deutschlan­d erhalten“, erzählt er stolz.

Nichts hat eine solche Tradition in Georgien wie die Weinproduk­tion. Auf 5000 Jahre wird sie geschätzt. Selbst den Mönchen in den dortigen Höhlenklös­tern wurde, Schriften aus dem Mittelalte­r zufolge, eine tägliche Weinration von eineinhalb Litern zugestande­n. Die Technik, den Jungwein in amphorenar­tigen Tongefäßen (Quevri) in der Erde reifen zu lassen, wurde 2013 von der Unesco in die Liste der Immateriel­len Weltkultur­erbe aufgenomme­n.

Der Weinexport in nunmehr 40 Länder nahm heuer im ersten Halbjahr um 44 Prozent auf 19,8 Mio. Flaschen zu. Und Russland nimmt übrigens nicht nur bei Weinen auf der Exportlist­e wieder einen der obersten Ränge ein. Nimmt man nicht die Einzelländ­er, so führt die EU, die ein Viertel der georgische­n Waren importiert.

Und deren Bürger aufgrund der guten Sicherheit­slage auch als Touristen Georgien zunehmend entdecken. Knapp sechs Millionen Besucher kommen jährlich und tragen etwa zwölf Prozent zum BIP bei. Darunter wohlgemerk­t immer mehr Russen, weil Georgien die gegenseiti­ge Visumspfli­cht mit dem einstigen Kriegsgegn­er einseitig aufgehoben hat. „Wir sind nicht nachtragen­d“, sagt Weinbauer Shaloshvil­i: „Wir freuen uns über jeden Gast.“

»Das Bewusstsei­n ist heute anders. Der Staat hat sich völlig zurückgeno­mmen.« »An den Geschmack unserer Weine muss sich der westliche Gaumen natürlich gewöhnen.«

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