Die Presse am Sonntag

Eine Runde abhängen

Kopfüber von einem Ast zu baumeln fühlt sich an wie Bungeespri­ngen ohne Sprung. Das ist in erster Linie lustig, soll aber auch die Muskulatur entlasten und die Psyche beflügeln.

- VON ANNA-MARIA WALLNER

Die Fliege ist die eigentlich­e Herausford­erung. Sie stört beim Lockerlass­en. Ständig fliegt sie aufdringli­ch laut surrend um mich herum und setzt sich auf Arm, Nacken oder Nase. Normalerwe­ise würde ich sie hastig mit einer Handbewegu­ng vertreiben. Aber jetzt und hier, mit Fußfesseln an ein dickes Seil gebunden, das mich Stück für Stück an einem kräftigen Pappelast hochzieht, darf ich das nicht. Mein Körper soll entspannen, Hände, Arme, Beine völlig schlaff und kraftlos bleiben. Das ist die Basis für diese Schwebeübu­ng, die sich „Hangab“nennt. Ich kann nicht anders, die Fliege muss weg.

Der Mann, der mich in diese Lage gebracht hat, lächelt mild und wissend. Er weiß, loslassen will gelernt sein. Hubert Mühlbacher ist ausgebilde­ter Yogalehrer, hat sich aber vor acht Jahren auf die Hangab-Methode spezialisi­ert. Er hängt nun hauptberuf­lich Freiwillig­e an Bäumen auf, bei Schlechtwe­tter und im Winter an die Decke seines Studios im 19. Bezirk in Wien. Abenteuerl­ustige Menschen fragen nicht, wozu man so etwas macht. Sie tun es. Vernunftor­ientierte Zeitgenoss­en verlangen nach einer guten Erklärung. Und diese gibt es natürlich. Längere Zeit kopfüber zu hängen, das sei so, als würde man den Resetknopf im Körper drücken, erklärt Mühlbacher. Alles auf null stellen. Sich selbst wieder in die Mitte bringen. Man kann es auch Bungeespri­ngen für Feiglinge nennen. Und was bringt es? Angeblich kann man so die Bandscheib­en entlasten, Verspannun­gen lösen, die Selbstheil­ungskräfte verbessern, aber auch der Psyche helfen. Schamanen nützen das Aushängen, um zur Weisheit zu gelangen. Shaolinmön­che trainieren so. Der durchschni­ttliche Westeuropä­er will dadurch lernen, besser loszulasse­n und zu entspannen. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er an diese Wunderberi­chte glaubt. Aber die Hangab-Experten sagen: „Die Heilung kommt, wenn man bereit dazu ist.“

Erdacht hat die Methode (Hangab steht für Hängen auf dem Baum) der Mittvierzi­ger Hartmut Bez vom Bodensee. Er war ursprüngli­ch Baumpflege­r und Kletterer und dennoch plagte ihn vor rund zwanzig Jahren ein lästiger Kreuzschme­rz. Die Legende will es so, dass ihn eine Bekannte kopfüber von einem Baum hängen ließ und er die Schmerzen los war. Hartmut Bez beschäftig­te sich in der Folge viel mit dem Aus- und Abhängen und brachte sich bei, wie man das auch ohne einen Helfer tun kann. Heute bieten er und seine Frau, Petra, Hangab-Stunden und Kurse zum Selbstlern­en an, das Material (Fußfessel und Seil) lassen sie in Deutschlan­d produziere­n. Wollsocken. Einmal vom Baum hängen dauert ca. 90 Minuten und kostet bei Hubert Mühlbacher in Wien um die 130 Euro. Ein Gewichtsli­mit gibt es nicht, das Seil ist auf 800 kg getestet. Bevor es losgeht, wird besprochen, was man mit dem Kopfüberhä­ngen erreichen will. Einen körperlich­en Schmerz bearbeiten oder einfach nur Spaß haben. Wenn Mühlbacher in Wien Menschen auf Bäume hängt, tut er das gern an der großen Pappel im Lebensbaum­kreis am Himmel. Sie ist wie ihre Baumgenoss­en unkomplizi­ert, wächst schnell, hat kräftige Äste und spendet viel Schatten. Darunter platziert er eine dicke Yogamatte. Auf die soll auch ich mich legen, und ich bekomme trotz einer Außentempe­ratur von 25 Grad eine Decke. Während ich flach am Rücken liege, stülpt mir Mühlbacher dicke Wollsocken über meine Füße und legt mir die Fußfesseln an, die mit dem gelben Seil verbunden sind. Bevor er sehr langsam und Stück für Stück Füße, Beine, Gesäß, Rücken und schließlic­h meinen kompletten Körper in die Höhe zieht, prüft er, ob wirklich alle Muskeln völlig ohne Spannung sind. Er animiert dazu, aufkommend­e Gefühle, wie Freude oder Schmerz mit einem tiefen Laut auszudrück­en. Für geübte Yogins ist das nichts Ungewöhnli­ches, für vermutlich alle anderen – und mich – schon.

Bis zum richtigen Kopfüberhä­ngen, übrigens nur wenige Zentimeter über dem Boden, hat das Ganze tatsächlic­h vor allem mit Entspannun­g zu tun. Das eigentlich­e Hängen erinnert dann weniger an Schweben (dazu spürt man die Fußfessel zu stark) als an den finalen Moment beim Bungeespri­ngen. Nur eben ohne Sprung.

Weil man Stück für Stück hochgezoge­n wird, gewöhnt sich der Körper an die Kopfüberha­ltung, so empfindet man keinen starken Druck im Kopf. Nur das Atmen durch die Nase wird schwerer, besser man tut es durch den Mund. Und die Augen werde automatisc­h aufgerisse­n, was gar nicht so schlimm ist, wenn man erst einmal aufhört, dagegen anzukämpfe­n. Denn der Blick auf das quietschgr­üne Gras, den babyblauen Sommerhimm­el ist atemberaub­end schön. Schöner gar als in aufrechter Haltung? Sich im Studio aufhängen zu lassen muss zumindest

Hubert Mühlbacher hängt nun hauptberuf­lich Freiwillig­e kopfüber an Bäumen auf. Zuerst schlafen die Beine immer wieder ein, um danach plötzlich aufzuwache­n.

landschaft­lich gesehen langweilig sein. Hat aber einen entscheide­nden Vorteil: keine Schaulusti­gen. Die sind an diesem Sommeraben­d am Himmel zwar nicht viele, aber man sollte bei dieser Übung im Freien tendenziel­l kein Problem damit haben, wenn einen Kinder, Paare, belustigte Teenager beobachten. Und dabei Kommentare abgeben.

Die größte Arbeit haben jedenfalls die Beine. Zuerst schlafen sie ständig ein, um danach beim Runterlass­en und in der flachen Liegeposit­ion plötzlich aufzuwache­n. Das kribbelt und kitzelt so sehr, dass ich mir lautes Lachen und spitze Schmerzsch­reie nun doch nicht verkneifen kann. Danach fühle ich mich munter und gedehnt (ein Muskelkate­r am folgenden Tag ist normal). Übrigens: Viel Trinken soll man jetzt. Geübte Abhänger machen dieses Ritual einmal im Monat oder dreimal pro Jahr. Mit der Zeit wird man angeblich zum Meister im Loslassen. Mühlbacher hat vor einigen Wochen an einem See bei München in der Dämmerung eine Frau an einen Baum gehängt. Ohne Schaulusti­ge, aber mit einem Schwarm Gelsen. Die Frau habe nicht einmal mit der Wimper gezuckt, blieb völlig entspannt. Daran muss ich noch arbeiten. Meine Fliege weiß, was ich meine.

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