Eine Runde abhängen
Kopfüber von einem Ast zu baumeln fühlt sich an wie Bungeespringen ohne Sprung. Das ist in erster Linie lustig, soll aber auch die Muskulatur entlasten und die Psyche beflügeln.
Die Fliege ist die eigentliche Herausforderung. Sie stört beim Lockerlassen. Ständig fliegt sie aufdringlich laut surrend um mich herum und setzt sich auf Arm, Nacken oder Nase. Normalerweise würde ich sie hastig mit einer Handbewegung vertreiben. Aber jetzt und hier, mit Fußfesseln an ein dickes Seil gebunden, das mich Stück für Stück an einem kräftigen Pappelast hochzieht, darf ich das nicht. Mein Körper soll entspannen, Hände, Arme, Beine völlig schlaff und kraftlos bleiben. Das ist die Basis für diese Schwebeübung, die sich „Hangab“nennt. Ich kann nicht anders, die Fliege muss weg.
Der Mann, der mich in diese Lage gebracht hat, lächelt mild und wissend. Er weiß, loslassen will gelernt sein. Hubert Mühlbacher ist ausgebildeter Yogalehrer, hat sich aber vor acht Jahren auf die Hangab-Methode spezialisiert. Er hängt nun hauptberuflich Freiwillige an Bäumen auf, bei Schlechtwetter und im Winter an die Decke seines Studios im 19. Bezirk in Wien. Abenteuerlustige Menschen fragen nicht, wozu man so etwas macht. Sie tun es. Vernunftorientierte Zeitgenossen verlangen nach einer guten Erklärung. Und diese gibt es natürlich. Längere Zeit kopfüber zu hängen, das sei so, als würde man den Resetknopf im Körper drücken, erklärt Mühlbacher. Alles auf null stellen. Sich selbst wieder in die Mitte bringen. Man kann es auch Bungeespringen für Feiglinge nennen. Und was bringt es? Angeblich kann man so die Bandscheiben entlasten, Verspannungen lösen, die Selbstheilungskräfte verbessern, aber auch der Psyche helfen. Schamanen nützen das Aushängen, um zur Weisheit zu gelangen. Shaolinmönche trainieren so. Der durchschnittliche Westeuropäer will dadurch lernen, besser loszulassen und zu entspannen. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er an diese Wunderberichte glaubt. Aber die Hangab-Experten sagen: „Die Heilung kommt, wenn man bereit dazu ist.“
Erdacht hat die Methode (Hangab steht für Hängen auf dem Baum) der Mittvierziger Hartmut Bez vom Bodensee. Er war ursprünglich Baumpfleger und Kletterer und dennoch plagte ihn vor rund zwanzig Jahren ein lästiger Kreuzschmerz. Die Legende will es so, dass ihn eine Bekannte kopfüber von einem Baum hängen ließ und er die Schmerzen los war. Hartmut Bez beschäftigte sich in der Folge viel mit dem Aus- und Abhängen und brachte sich bei, wie man das auch ohne einen Helfer tun kann. Heute bieten er und seine Frau, Petra, Hangab-Stunden und Kurse zum Selbstlernen an, das Material (Fußfessel und Seil) lassen sie in Deutschland produzieren. Wollsocken. Einmal vom Baum hängen dauert ca. 90 Minuten und kostet bei Hubert Mühlbacher in Wien um die 130 Euro. Ein Gewichtslimit gibt es nicht, das Seil ist auf 800 kg getestet. Bevor es losgeht, wird besprochen, was man mit dem Kopfüberhängen erreichen will. Einen körperlichen Schmerz bearbeiten oder einfach nur Spaß haben. Wenn Mühlbacher in Wien Menschen auf Bäume hängt, tut er das gern an der großen Pappel im Lebensbaumkreis am Himmel. Sie ist wie ihre Baumgenossen unkompliziert, wächst schnell, hat kräftige Äste und spendet viel Schatten. Darunter platziert er eine dicke Yogamatte. Auf die soll auch ich mich legen, und ich bekomme trotz einer Außentemperatur von 25 Grad eine Decke. Während ich flach am Rücken liege, stülpt mir Mühlbacher dicke Wollsocken über meine Füße und legt mir die Fußfesseln an, die mit dem gelben Seil verbunden sind. Bevor er sehr langsam und Stück für Stück Füße, Beine, Gesäß, Rücken und schließlich meinen kompletten Körper in die Höhe zieht, prüft er, ob wirklich alle Muskeln völlig ohne Spannung sind. Er animiert dazu, aufkommende Gefühle, wie Freude oder Schmerz mit einem tiefen Laut auszudrücken. Für geübte Yogins ist das nichts Ungewöhnliches, für vermutlich alle anderen – und mich – schon.
Bis zum richtigen Kopfüberhängen, übrigens nur wenige Zentimeter über dem Boden, hat das Ganze tatsächlich vor allem mit Entspannung zu tun. Das eigentliche Hängen erinnert dann weniger an Schweben (dazu spürt man die Fußfessel zu stark) als an den finalen Moment beim Bungeespringen. Nur eben ohne Sprung.
Weil man Stück für Stück hochgezogen wird, gewöhnt sich der Körper an die Kopfüberhaltung, so empfindet man keinen starken Druck im Kopf. Nur das Atmen durch die Nase wird schwerer, besser man tut es durch den Mund. Und die Augen werde automatisch aufgerissen, was gar nicht so schlimm ist, wenn man erst einmal aufhört, dagegen anzukämpfen. Denn der Blick auf das quietschgrüne Gras, den babyblauen Sommerhimmel ist atemberaubend schön. Schöner gar als in aufrechter Haltung? Sich im Studio aufhängen zu lassen muss zumindest
Hubert Mühlbacher hängt nun hauptberuflich Freiwillige kopfüber an Bäumen auf. Zuerst schlafen die Beine immer wieder ein, um danach plötzlich aufzuwachen.
landschaftlich gesehen langweilig sein. Hat aber einen entscheidenden Vorteil: keine Schaulustigen. Die sind an diesem Sommerabend am Himmel zwar nicht viele, aber man sollte bei dieser Übung im Freien tendenziell kein Problem damit haben, wenn einen Kinder, Paare, belustigte Teenager beobachten. Und dabei Kommentare abgeben.
Die größte Arbeit haben jedenfalls die Beine. Zuerst schlafen sie ständig ein, um danach beim Runterlassen und in der flachen Liegeposition plötzlich aufzuwachen. Das kribbelt und kitzelt so sehr, dass ich mir lautes Lachen und spitze Schmerzschreie nun doch nicht verkneifen kann. Danach fühle ich mich munter und gedehnt (ein Muskelkater am folgenden Tag ist normal). Übrigens: Viel Trinken soll man jetzt. Geübte Abhänger machen dieses Ritual einmal im Monat oder dreimal pro Jahr. Mit der Zeit wird man angeblich zum Meister im Loslassen. Mühlbacher hat vor einigen Wochen an einem See bei München in der Dämmerung eine Frau an einen Baum gehängt. Ohne Schaulustige, aber mit einem Schwarm Gelsen. Die Frau habe nicht einmal mit der Wimper gezuckt, blieb völlig entspannt. Daran muss ich noch arbeiten. Meine Fliege weiß, was ich meine.