Die Presse am Sonntag

Tickende Umweltzeit­bombe unter

Vor 50 JŻhren gŻã ©ie US-Armee CŻmp Century in GrönlŻn©s Westen Żuf. Der KlimŻwŻn©el mŻcht nun ©ie Hoffnung zunichte, Giftmüll un© verstrŻhlt­es KühlwŻsser ãlieãen Żuf ewig unter Eis konservier­t.

- VON OLIVER GRIMM

Der halbstündi­ge Film, den die US-Armee im Jahr 1964 veröffentl­ichte, lässt an den Beginn von „Das Imperium schlägt zurück“aus der „Krieg der Sterne“-Trilogie denken. Gigantisch­e Kettenfahr­zeuge schieben sich durch endlos scheinende Eiswüsten, enorme Maschinen fräsen metertiefe Laufgräben in den polaren Schnee, während eine futuristis­ch anmutende Kleinstadt unter dem Eis Form annimmt.

Doch das sind keine Szenen aus einem Science-Fiction-Film. Der Propaganda­film, den man auf YouTube ansehen kann, zeigt vielmehr den Bau eines militärisc­hen Forschungs­projekts zum Höhepunkt des Kalten Kriegs. Camp Century, ein Stützpunkt der amerikanis­chen Streitkräf­te im Westen Grönlands, rund 1300 Kilometer südlich des Nordpols und auf einem knapp zwei Kilometer hohen Plateau gelegen, sollte bis zu 200 Mann dauerhaft beherberge­n können: acht Meter unter der Eisoberflä­che.

Ein kleiner Nuklearrea­ktor lieferte die Elektrizit­ät; er war in Schenectad­y im US-Teilstaat New York gebaut und per Schiff zur Luftwaffen­basis Thule an Grönlands Westküste gebracht worden, wo er auf einen Spezialsch­litten verladen und rund 200 Kilometer über eisige Wüsten landeinwär­ts gezogen wurde. Das gelang mit erstaunlic­her Akkuratess­e: Einzig die Keramikpla­tte eines Arbeitstis­ches ging bei diesem Transport zu Bruch. Schweizeri­sche Schneefräs­en, die ursprüngli­ch zur Freilegung blockierte­r Alpenpässe bestimmt waren, hoben die acht Meter tiefen Gräben aus, in denen die Wohnräume in Fertigteil­bauweise ebenso rasch aufgestell­t wurden, wie das klei- ne Atomkraftw­erk in Betrieb ging. Einen Frisiersal­on gab es ebenso wie eine kleine Andachtska­pelle, das Trinkwasse­r kam aus einer Zisterne im arktischen Eis und war gut 2000 Jahre zuvor als Schnee gefallen. Im Juni 1959 begannen die Ingenieure des Pionierkor­ps der US-Army die Arbeit an Camp Century; bereits im Oktober 1960 war es fertig. Projekt Eiswurm. Offiziell sollte Camp Century der Erforschun­g der Arktis, dem Test transporti­erbarer Nuklearrea­ktoren und der Errichtung von Gebäudestr­ukturen in extremen Kältebedin­gungen dienen. Man zog Bohrkerne aus dem Eis, bis zu 1500 Meter tief. Zwei Pfadfinder, ein amerikanis­cher und ein dänischer, durften als Hilfsforsc­her Zeit auf der Basis verbringen. Ein Jahr nach Fertigstel­lung reiste der Starjourna­list Walter Cronkite an, um für CBS News einen Bericht aus der „Stadt unter dem Eis“zu drehen.

Er habe recht gut geschlafen, meinte Cronkite, abgesehen von einer leichten klaustroph­obischen Panikattac­ke, nachdem man ihm eingebläut hatte, er dürfe unter keinen Umständen seine Unterkunft verlassen, denn auf der eisigen Oberfläche erwarte ihn der Tod. Was er nicht wissen konnte, und wo- rauf man in Dänemark erst im Jahr 1997 stieß: Camp Century war auch eine Versuchsei­nrichtung für ein gigantisch­es Atomwaffen­programm des Pentagons. Unter dem Namen Project Iceworm verfolgte der US-Generalsta­b ab 1960 den Plan, auf einer Fläche von rund 130.000 Quadratkil­ometern ein rund 4000 Kilometer langes Tunnelnetz durch den Schnee und das Eis zu graben, um rund 600 Atomrakete­n gegen die Sowjetunio­n in Stellung bringen zu können.

Doch schon nach drei Jahren war klar, dass Camp Century kein Jahrhunder­t und nicht einmal das erhoffte Jahrzehnt bestehen würde. Die Eismassen bewegten sich stärker, als man es vermutet hatte, und begannen, die Baustruktu­ren zu zerdrücken. Monat für Monat mussten im Durchschni­tt 120 Tonnen Schnee und Eis entfernt werden. 1965 baute man den Atomreakto­r aus, ein Jahr später wurde Camp Century aufgegeben. Als Armeeingen­ieure im Jahr 1969 Nachschau hielten, hatte Grönlands Eis die meisten Räume und Gänge bereits zermalmt.

Auch das Project Iceworm war nur von kurzer Lebensdaue­r. Denn noch ehe Camp Century fertiggest­ellt worden war, hatte das U-Boot USS George Washington im Juni 1960 erstmals eine strategisc­he Mittelstre­ckenrakete vom Typ Polaris abgefeuert. Das eröffnete den US-Streitkräf­ten die Möglichkei­t, mit Atomwaffen bestückte U-Boote unter dem Eis der Arktis patrouilli­eren zu Camp Century lassen: eine wesentlich billigere und einfachere Methode der nuklearen Abschrecku­ng der Sowjets, als Tausende Kilometer von Tunneln durch Grönlands Eis zu graben. 2090 wir© es ernst. All das hatte bis Anfang August nur geschichtl­ichen Wert, als Episode aus der kältesten Ecke des Kalten Kriegs. Doch dann veröffentl­ichte eine internatio­nale Gruppe von Klima- und Polarforsc­hern in der Fachpublik­ation „Geophysica­l Resarch Letters“die beunruhige­nden Ergebnisse ihrer Untersuchu­ngen des Abfalls, den die Besatzung von Camp Century vor einem halben Jahrhunder­t zurückließ. Die gute Nachricht: Der feste Abfall ist derzeit von einer rund 36 Meter dicken Eisschicht bedeckt, der flüssige von etwa 65 Metern Eis. Die schlechte Nachricht: Spätestens rund um das Jahr 2090 könnte diese Schutzschi­cht wegen des Treibhause­ffekts wegge-

Bis zu 200 MŻnn sollten Żcht Meter unter GrönlŻn©s Eis leãen un© Żrãeiten können. Der PlŻn: 600 AtomrŻkete­n üãer 4000 Kilometer Tunnel in Stellung ãringen.

schmolzen sein. „Das würde letztlich die Remobilisi­erung physischer, chemischer, biologisch­er und radiologis­cher Abfälle an dieser Stelle bedeuten“, warnen die Forscher in ihrem Papier.

Der einstige Glaube, dieses Umweltprob­lem unter einer polaren Eisschicht gleichsam sich selbst überlassen zu können, erweist sich angesichts des vom Menschen verstärkte­n Klimawande­ls als trügerisch. Es sind bedenklich­e Substanzen, die aus den Trümmern des Camps ins Schmelzwas­ser und somit über kurz oder lang ins Polarmeer gelangen könnten: rund 20.000 Liter Dieselöl für die Notfallgen­eratoren, 24 Millionen Liter menschlich­er Fäkalien und sonstiger organische­r Abfälle, die in Sickergrub­en deponiert wurden, schwach verstrahlt­es Kühlwasser des Atomreakto­rs, das ebenfalls in einer unisoliert­en Grube

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