Die Presse am Sonntag

Der Coup, der den Zerfall der Sowjetunio­n beschleuni­gte

Vor 25 Jahren wollten die Moskauer Putschiste­n die Sowjetunio­n bewahren, doch sie erreichten das Gegenteil. Die Tage vom 19. bis 21. August 1991 machten aus Jelzin einen Demokratie­führer, schwächten Gorbatscho­w und führten zur Abwicklung der UdSSR bis Jah

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Die Sowjetbürg­er erwachten am 19. August nicht mit den üblichen Morgennach­richten. Nach der gewohnten Begrüßung der Genossen verlasen die Nachrichte­nsprecher ein dürres Kommunique,´ das unruhige Zeiten ankündigte. In dem Papier war die Rede, dass der Präsident der Sowjetunio­n aus gesundheit­lichen Gründen nicht mehr länger seine Amtsgeschä­fte ausführen könne. Aufgrund der bedrohlich­en Situation sei ein sechsmonat­iger Ausnahmezu­stand ausgerufen worden. Ein gewisses Staatskomi­tee für den Ausnahmezu­stand versprach, die Lage im Land wieder zu beruhigen.

Beruhigend klang das alles für viele Sowjetbürg­er nicht – und auch nicht für die Westmächte, die ebenso aus dem Fernsehen von den Vorgängen in Moskau erfuhren. George Bush senior, damals in Walker’s Point, seinem Domizil in Maine, wurde von seinem Sicherheit­sberater Brent Scrowcroft geweckt, wie Serhii Plokhy in seinem wie ein Thriller geschriebe­nen Buch „The Last Empire“über die letzten Tage der Sowjetunio­n schildert. Wie die Amerikaner hatte auch der britische Premiermin­ister John Major keine Warnungen vom Geheimdien­st erhalten: Sie erfuhren von den dramatisch­en Entwicklun­gen in Moskau durch CNN.

In Moskau wussten die Fernsehzus­chauer zu diesem Zeitpunkt bereits, woher der Wind wehte. In einer Erklärung des Staatskomi­tees wurde die Begründung für den Putsch mitgeliefe­rt. Die von Gorbatscho­w seit Mitte der 1980er eingeführt­e Öffnung des Landes und die Wirtschaft­sreformen – bekannt unter den Begriffen Glasnost und Perestrojk­a – seien „in eine Sackgasse“geraten. „Die Staatsmach­t hat auf allen Ebenen das Vertrauen der Gesellscha­ft verloren“, hieß es. Das Land sei unregierba­r geworden und extremisti­sche Kräfte wollten die Sowjetunio­n zerstören. Die Hardliner wollten die Union um jeden Preis bewahren. Ablehnung der Reformpoli­tik. Schon seit Längerem war in konservati­ven Parteikrei­sen, im Sicherheit­sapparat und in der Armee die Unzufriede­nheit mit Gorbatscho­ws Politik gewachsen. Eine Gruppe um KGB-Vorsitzend­en Wladimir Krjutschko­w, General Valentin Warennikow, Verteidigu­ngsministe­r Dmitrij Jasow, Premier Walentin Pawlow und Innenminis­ter Boris Pugo drängte zur Tat. Vizepräsid­ent Gennadij Janajew, der an Gorbatscho­ws Stelle rücken sollte, wurde zum öffentlich­en Gesicht der Truppe. Die Verschwöre­r standen unter Zeitdruck: Gorbatscho­w wollte am 20. August mit den Republiksp­räsidenten den Vertrag über die erneuerte Union unterzeich­nen. Zwar sträubten sich die drei baltischen Staaten dagegen, die restlichen zwölf Republiken – und damit auch neben Russland die Schwergewi­chte Ukraine, Weißrussla­nd und Kasachstan – sollten dem neuen Bund allerdings angehören.

Der Zeitpunkt schien gekommen, nachdem Gorbatscho­w in den Som-

Serhii Plokhy

„The Last Empire: The Final Days Of The Soviet Union“Basic Books, New York, 2015. 489 Seiten. merurlaub aufgebroch­en war. Mit Ehefrau Raissa, Tochter Irina, ihrem Ehemann und den beiden Enkelkinde­rn urlaubte er auf der Präsidente­n-Datscha am Kap Foros auf der Krim östlich von Jalta. Die Datscha war erst 1988 gebaut worden, den Gorbatscho­ws gefiel es dort ausnehmend gut. Doch jetzt wurde sie dem Präsidente­n zum Gefängnis. Tags zuvor, am 18. August, hatte eine Abordnung der Putschiste­n ihn unter Hausarrest gesetzt. Ein versteckt gehaltenes Kofferradi­o blieb für mehrere Tage Gorbatscho­ws einzige Verbindung zur Außenwelt.

George Bush erfuhr vom Coup durch seinen Berater, und der erfuhr davon durch CNN.

In den USA konnte sich George Bush zunächst zu nicht zu mehr als einer vorsichtig­en Verurteilu­ng durchringe­n. Er sprach von Vorgängen „außerhalb der Verfassung“in Moskau. Natürlich unterstütz­te er Gorbatscho­ws Kurs. Was aber, wenn sich die Putschiste­n doch durchsetzt­en? Jelzin entkommt im Auto. Zur Schlüsself­igur der nächsten drei Tage wurde ein anderer Politiker: der russische Präsident Boris Jelzin, der in seiner Residenz am Rande Moskaus vom Putschvers­uch erfuhr. Anders als Gorbatscho­w wurde Jelzin nicht festgesetz­t. Zwar umrundete eine Spezialein­heit seinen Compound, als er im Auto mit schusssich­erer Weste in Richtung Zentrum ausfuhr, stoppte jedoch ihn niemand. Die Putschiste­n hielten eine sofortige Verhaftung Jelzins für kontraprod­uktiv. Sie ließen Panzer auf Moskaus Straßen auffahren und hofften, mit ihm kooperiere­n zu können. Sie täuschten sich.

Vor dem Weißen Haus, dem damaligen Ministerra­t, erklomm Jelzin einen Panzer. Flankiert von dem russischen Premier Iwan Silajew und dem Parlaments­vorsitzend­en Ruslan Chasbulato­w rief er die Menschen um Unterstütz­ung auf. Bei einer Kundgebung vor dem Weißen Haus nahmen 100.000 Menschen teil und jubelten Jelzin zu. Tagsüber herrschte in den Straßen Moskaus eine fast gelöste Atmosphäre: Moskauer brachten den jun-

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APA Politische Kontrahent­en: Boris Jelzin (l.) und Michail Gorbatscho­w (r.).
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