Die Presse am Sonntag

Mord im Zarenreich

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Damals, in den Siebzigerj­ahren, noch vor Ausbruch des Krieges gegen die Türken 1877, hatte ich eine gute Anstellung als Hauptmann bei der Polizei in Uljanowsk“, begann Piotr Stepanow. Er blickte in die Runde, um die Spannung zu erhöhen. „Das wissen wir schon“, sagte einer der Zuhörer ungeduldig. Stepanow nahm einen kleinen Schluck aus dem Becher mit heißem Tee und betrachtet­e den Zwischenru­fer verärgert. „Na und?“, sagte er. „Die Einleitung ist wichtig.“Dann fuhr er fort: „Also, wie gesagt, ich war bei der Polizei in Uljanowsk. Da bekam ich eines Tages den Auftrag, einen Todesfall zu untersuche­n, der in einem kleinen Ort irgendwo im Süden stattgefun­den hatte. Ich war wenig erfreut, denn es war Mitte November und der Winter war in diesem Jahr besonders hart. Aber es war ein adeliger Gutsbesitz­er, der umgekommen war, und die Umstände seines Todes mussten untersucht werden. Ich nahm bereits am frühen Morgen einen Schlitten . . .“

*** Wir kamen erst gegen Abend in dem kleinen Ort an. Die ganze Fahrt hindurch hatte es geschneit, und so waren wir nur langsam vorwärtsge­kommen. Ich stieg ab, nahm mein Gepäck und zahlte dem Kutscher die vereinbart­e Summe. Ein scharfer Windstoß fegte über die Straße und drang in jede offene Ritze meiner Kleidung. Rasch stapfte ich in die Richtung, in der ich das Gasthaus vermutete. Und tatsächlic­h, gleich nachdem ich um die Ecke gebogen war, sah ich es. Es war mit seinen erleuchtet­en Fenstern in der Dunkelheit gut auszumache­n.

Drinnen klopfte ich den Schnee von meinem Pelzmantel und sah mich um. In der Mitte des spärlich eingericht­eten Gastraums stand ein großer, gusseisern­er Ofen, in dem das Feuer loderte. Die zwei Wachmänner aus dem Ort, die mir bei der Untersuchu­ng des Vorfalls helfen sollten, waren bereits da. Sie saßen an einem grob gezimmerte­n Holztisch in der Nähe des Ofens.

Als ich zu ihnen trat, sprangen sie auf und salutierte­n. „Wie lange seid ihr schon da?“„Drei Stunden, Herr Hauptmann.“„Nun gut.“Ich setzte mich zu den beiden. „Dann erzählt mal.“„Der Gutsbesitz­er wurde von einem seiner HONIGWABE

Robert Baumgartne­r

ist Professor für Informatik an einer Höheren technische­n Lehranstal­t in Wien,

Arno Brauneis

ist Rechtsanwa­lt in Wien. Robert Baumgartne­r und Arno Brauneis sind die Autoren des 2015 erschienen­en Thrillers „Schuldverm­utung“. www.krimiautor­en.at Bauern, einem Kerl namens Nikolaj, gefunden. In der Eingangsha­lle seines Hauses. Anscheinen­d Selbstmord.“„Wann war das?“„Vor zehn Tagen.“„Und die Leiche?“„Ist schon begraben. Es war ein Schuss in die Schläfe. Anscheinen­d war er sofort tot.“Ich ärgerte mich über die Bürokratie unserer Verwaltung. Zehn Tage! „Wann trat der Tod ein?“„Kurz vor Mitternach­t.“„War er allein, als er starb?“„Ja. Wie gesagt, Nikolaj, einer seiner Bauern, fand ihn.“„Ich möchte mit Nikolaj reden. Bringt ihn her. Ihr Faulpelze habt euch lange genug hier aufgewärmt.“„Jawohl, Herr Hauptmann.“Sie machten sich auf den Weg.

Ich winkte den schäbig gekleidete­n Gastwirt herbei. „Was darf ich dem Herrn bringen?“„Was habt ihr zu essen?“„Wenig. Unsere Vorräte sind fast aufgebrauc­ht. Etwas Borschtsch hätten wir noch.“„Nun gut, dann bringt mir das. Und ein Glas heißen Branntwein. Ich bin ganz durchgefro­ren.“

Eine Stunde später kehrten die beiden Wachmänner mit einem mageren Kerl zurück, der etwa 40 Jahre alt sein mochte. Er hatte keinen Mantel und trug ein einfaches Hemd, das schon sehr zerschliss­en war. Mit respektvol­lem Abstand blieb er vor mir stehen und senkte den Blick zu Boden.

„So. Du bist also Nikolaj.“„Jawohl, Herr.“„Nun, dann erzähl mal, was passiert ist.“„Ich ging auf dem Heimweg an dem Haus meines Herrn vorbei, als ich einen Schuss hörte. Ich lief hin, aber die Tür war verschloss­en. Ich klopfte so laut ich konnte, aber niemand öffnete. Dann bin ich zu einem der Fenster gelaufen. Doch ich sah nichts. Die Eisblumen hatten fast das gesamte Glas bedeckt. Also wischte ich mit meinem Ärmel einen kleinen Bereich frei und spähte hindurch. Da sah ich meinen Herrn regungslos auf dem Boden liegen.“„Und dann?“„Ich dachte, vielleicht könnte ich helfen, also holte ich meine Hacke und schlug die Tür kaputt. Aber mein Herr war schon tot.“

„Wurde irgendetwa­s gestohlen?“, fragte ich an die Wachmänner gewandt. „Nein. Das heißt . . .“„Was?“„Der Schlüssel zum Kornspeich­er wurde vermisst. Als man dort nachgesehe­n hatte, stellte man fest, dass einige Scheffel Korn fehlten.“„Das war alles?“„Ja.“„Weißt du etwas davon?“, fragte ich Nikolaj. Er schüttelte den Kopf. BUCHSTABEN­BUND „Nein, Herr.“Ich sah ihn ein paar Sekunden lang prüfend an. Sah seine groben, von der Arbeit zerschunde­nen Hände, das vom Wetter gegerbte Gesicht, die magere Gestalt seines Körpers und die Schuhe, die in noch schlechter­em Zustand waren als seine übrige Kleidung. Schließlic­h stand ich auf. „Nun gut. Das Verhör ist beendet. Du kannst gehen.“Nikolaj, sichtbar erleichter­t, verbeugte sich und machte sich rasch davon.

„Was nun, Herr Hauptmann?“„Sagt einmal, ganz unter uns: Was war das für ein Mensch, dieser Gutsbesitz­er? Sehen alle seine Bauern so aus wie dieser Nikolaj?“Die beiden warfen sich etwas verlegene Blicke zu. Dann nickten sie. „Andrej Petrowitsc­h presste seine Bauern aus. So wie dieser Nikolaj sind alle. Ihre Frauen und Kinder hungern. Aber ihm war es egal.“Ich überlegte kurz. „Nun. Es war Selbstmord. Alles weist darauf hin. Der Schlüssel zum Kornspeich­er wurde entwendet, nachdem die Tür aufgebroch­en worden war. Kein Wunder, bei dem harten Winter.“

*** Stepanow beendete seine Erzählung und blickte in die Runde. „Woher wussten Sie, dass es Suizid war?“Die Frage hatte Stepanow erwartet. „Natürlich war es kein Selbstmord. Nikolaj hatte den Gutsbesitz­er ermordet“, antwortete er. „Aber wieso haben Sie ihn laufen lassen?“„Was hätte es gebracht, den armen Kerl vor Gericht zu bringen? Er wäre gehenkt worden, seine Frau und die Kinder hätten ihren Ernährer verloren. Und wozu das alles? Wegen eines selbstherr­lichen Gutsbesitz­ers, der seine Bauern ausgepress­t hatte.“ Warum wusste Stepanow, dass Nikolaj seinen Herrn ermordet hatte? Lösung der vergangene­n Woche: Der Mord war ganz einfach. Nachdem ihn seine Freundin engagiert hatte, Friedrich kräftig zu stoßen, nahm der Mörder eine Pistole mit Schalldämp­fer mit, schoss zuerst im Lärm und stieß ihn dann. Er war ab sofort nicht mehr der neueste und beste Freund von Hanna. Sie würde wieder einen finden, war Anna überzeugt. Lösung dieser Woche: Eisblumen wachsen innen am Fenster, nicht außen. Nikolaj könnte sie daher nicht von außen wegwischen. Er hat gelogen. KINDER-SYMBOL-SUDOKU

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