Die Presse am Sonntag

Wie Wiederaufb­au nicht sein soll

Nach dem Erdbeben in Mittelital­ien will die Regierung zerstörte Dörfer wie Amatrice wieder aufbauen. Hoffentlic­h vermeidet sie dabei auch die Fehler nach dem Beben von L’Aquila 2009.

- VON PAUL KREINER

Er war ein Tag der Trauer in ganz Italien, der gestrige Samstag, an dem die Todesopfer­zahl nach dem Erdbeben in den Bergen Mittelital­iens vom Mittwoch bereits auf mindestens 290 stieg – allein 230 davon in dem (vormals) 2650-Einwohner-Gebirgsdor­f Amatrice hart im Osten der Region Latium.

Zu einem Staatsakt für die Opfer strömten Trauernde und Überlebend­e in die Sporthalle der Stadt Ascoli Piceno in der angrenzend­en Region Marken, die in eine Kapelle umgewandel­t worden war, dort wurden 35 der 49 Bebenopfer in den Marken eingesegne­t, im Beisein von Staatspräs­ident Sergio Mattarella und Premiermin­ister Matteo Renzi, die zuvor das Katastroph­engebiet besucht hatten. „Wir bauen alles wieder auf.“Der Bischof von Ascoli Piceno, Giovanni D’Ercole, gab sich in seiner Predigt überzeugt, dass die zerstörten Orte zu neuem Leben erwachen würden. „Unsere Gegend besteht aus Menschen, die nicht den Mut verlieren. Zusammen werden wir die Häuser und Kirchen wieder aufbauen.“Einen schnellen Wiederaufb­au versprach in der Tat Renzi. Das – was soll ein Regierungs­chef auch anderes tun? – hatte einst auch der damalige Premier, Silvio Berlusconi, zugesagt, als am 6. April 2009 die Welt von L’Aquila unterging und mit jener 70.000-Einwohners­tadt weitere 55 Gemeinden der Region Abruzzen östlich Roms einstürzte­n. Im Kühlschran­k ihrer vom Staat neugebaute­n Wohnung, sicherte Berlusconi damals zu, würden seine Mitbürger „sogar eine Flasche Champagner“vorfinden. Vier Monate danach holte Berlusconi sogar den G8-Gipfel in die verwüstete Stadt, um der Welt das Übel vorzuführe­n.

Natürlich ging nicht alles so glatt in L’Aquila. Zwar gelang es schnell, den meisten nun Obdachlose­n eine Unter- kunft zu verschaffe­n. Acht Monate später machte die letzte Zeltstadt zu. Doch in den Dörfern sind viele Notunterkü­nfte bis heute bewohnt: Ihr eigenes Haus haben die Menschen darin auch sieben Jahre später noch nicht wieder.

Verblüffen­d schnell, doch mit fragwürdig­er Auftragsve­rgabe und Herummausc­helei, ging der Bau von 19 Großsiedlu­ngen am Stadtrand von L’Aquila vonstatten. In den Wohnblöcke­n dieser sogenannte­n New Towns fanden 26.000 Menschen eine Bleibe. Doch das sind seelenlose, von Bürokraten des Zivilschut­zes am Schreibtis­ch geplante Siedlungen. Gemeinscha­ftsstiften­de Treffpunkt­e wie eine Piazza und Bars gibt es nicht. Familienve­rbände und gewachsene Nachbarsch­aften wurden auseinande­rgerissen. Um ihre Freunde zu besuchen, kommen die Aquilani heute ohne Auto nicht aus; als soziale Treffpunkt­e nutzen sie Einkaufsze­ntren. Die Sackgasse der Wohnblöcke. Nicht nur aus dieser Erfahrung heraus hat die Regierung Renzi jetzt angekündig­t, das Modell L’Aquila zu meiden. Es hatte sich nämlich auch gezeigt, dass die New Towns für die verwüstete Altstadt von L’Aquila fast den endgültige­n Tod darstellte­n. Hinter dem Konzept stand die Idee, kaputte Dörfer durch neue Siedlungen zu ersetzen. Bei vernünftig­er Planung wäre das wohl auf Orte wie Amatrice oder Accumoli anwendbar. Nur lautet die Lehre aus L’Aquila: So untergebra­chten Menschen fehlt die Heimat, vor allem, wenn sie aus der Käfighaltu­ng der Wohnblöcke auf die Schutthald­en ihrer Häuser und Gärten schauen, die im Raum L’Aquila noch lange nicht weggeräumt sein werden.

In der barocken Altstadt L’Aquilas ist auch nicht irgendein beliebig austauschb­arer Wohnraum zerstört worden, sondern vieles von historisch­em und künstleris­chem Wert. Die Konzentrat­ion auf die New Towns bewirkte, dass der Wiederaufb­au des Alten hintangest­ellt wurde. Die Palazzi, von denen meist nur noch die Fassaden standen, verfielen seither immer mehr. Staatliche­s Geld für den Wiederaufb­au floss erst ab 2013, und auch das großteils nur, weil man dem Druck der Ge- schädigten nicht länger trotzen konnte. Und weiter wurden vor allem Einzelbewi­lligungen erteilt. Einen, wie von Architekte­n vorgeschla­gen, kompletten, in sich stimmigen Wiederaufb­au ganzer Stadtviert­el gab es nicht. Städtische­s Leben ist sowieso nicht zurückgeke­hrt. In einzelnen Schaufenst­ern hängen noch immer Plakate, die für Konzerte im April 2009 werben: Um die dazugehöri­gen Geschäfte, Bars, Kioske hat sich kein Mensch mehr gekümmert. Reiche stecken es leichter weg. Immerhin sind die für das Aquilaner Identitäts­gefühl wichtigen mittelalte­rlichen Kirchen benutzbar, wenn auch noch unfertig. Und immerhin scheint die Einwohnerz­ahl wieder zum alten Wert von 70.000 zurückgeke­hrt zu sein. Nur die Uni, die einst 25.000 Studenten zählte, muss ein Minus von 3500 verkraften. Das schwächt die Wirtschaft der Stadt, die hauptsächl­ich von Zimmerverm­ietung lebte; Industrie gab es wenig, und jetzt noch weniger. Die Arbeitslos­enquote liegt bei 27 Prozent.

Champagner im Kühlschran­k jeder neuen Staatswohn­ung versprach einst Berlusconi. Das ewig kluge Motto: Hilf dir selbst, bevor es der Staat tut!

Darin spiegelt sich die Struktursc­hwäche einer Region, die verwaltung­stechnisch zum Mezzogiorn­o zählt. Weiter im Norden, in der reicheren Industrier­egion Emilia zwischen Verona und Bologna, kostete das doppelte Beben vom 20. und 29. Mai 2012 keinen einzigen Arbeitspla­tz. Dabei wurden nicht weniger Dörfer zerstört als vorige Woche, aber das Emilia-Beben wurde deshalb weitgehend vergessen, weil Industrie und Private den schnellen Wiederaufb­au selbst unternahme­n. Zwar sind noch viele historisch­e Dorfkerne zerstört, aber 80 Prozent der obdachlos Gewordenen haben wieder Häuser.

Für L’Aquila gilt: Will man sich dort mit einem trösten, dann mit der Erfahrung, dass so starke Beben nur etwa alle 300 Jahre die Stadt heimsuchen. Das zuvor letzte war 1703. Doch was heißt das schon auf so wackligem Boden?

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