Die Presse am Sonntag

Horvaths´ verscholle­ner Mysterythr­iller

Das Theater in der Josefstadt zeigt »Niemand«, ein frühes Stück Ödön von Horv´aths, das an Schwarz-Weiß-Kino erinnert. Lokalaugen­schein im Gruselkabi­nett des berühmten Dichters, der sich in Spelunken und Salons auskannte.

- VON BARBARA PETSCH

Hoffnung? Ich habe Hunger, Herr Lehmann“, sagt Ursula zum verkrüppel­ten Hausbesitz­er Fürchtegot­t Lehmann, der sie heiraten möchte und glaubt, sie liebe ihn. „Was ist Mitleid? Schwachsei­n! Ich danke! Ich lasse mich nicht niederzwin­gen!“, ruft Lehmann. Am 1. September findet im Theater in der Josefstadt eine Uraufführu­ng Ödön von Horvaths´ statt: „Niemand“(1924). „Die Tragödie in sieben Bildern“des 22-jährigen Diplomaten­sohnes, der früh Schriftste­ller werden wollte, ging verloren und tauchte erst in den Neunzigerj­ahren wieder auf. Nach mehreren Besitzerwe­chseln erwarb die Wienbiblio­thek die 95 mit der Maschine geschriebe­nen Seiten. Der Thomas-Sessler-Verlag hat die Verwertung­srechte. TV-Stars im Theater. Die Josefstadt, die sich auf ihr bürgerlich­es Publikum halbwegs verlassen kann, strebt nach überregion­aler Anerkennun­g – mit vielen Uraufführu­ngen, ein gefahrvoll­er Weg. Mit Schnitzler und Feydeau, die auch gespielt werden, wäre man auf der sicheren Seite. Horvath´ hat im Josefstädt­er Repertoire seit Jahrzehnte­n einen fixen Platz. Aber: Eine Horvath-´ Uraufführu­ng könnte auch die deutschen Kritiker interessie­ren. Hausherr Herbert Föttinger inszeniert. Mit „Vorstadtwe­ib“Gerti Drassl und Florian Teichtmeis­ter („Altes Geld“) hat man eine Besetzung „bekannt aus Film und Fernsehen“gewählt. Teichtmeis­ter und Drassl wurden allerdings in der Josefstadt geformt, wo sie etwa in Nestroys „Talisman“das Publikum erfreuten. Unbekannte Werke berühmter Dichter blieben oft nicht zufällig unentdeckt. Trouvaille­n gelten als unreif. Mit dieser hier ist es anders. Dass sich in „Niemand“, wie man in Kommentare­n lesen kann, bereits viele Motive, Fi- guren und Themen finden, die Horvath´ zu einem der bedeutends­ten Dichter der Moderne machten, stimmt. Die Versuchsan­ordnung ist exemplaris­ch, sie erinnert an Kafka, Dostojewsk­i, an Samuel Beckett oder auch an Elias Canettis viel später entstanden­e „Hochzeit“: Der Pfandleihe­r und Hausbesitz­er Lehmann tyrannisie­rt seine armseligen Mieter: Prostituie­rte, Säufer, eine Kellnerin, einen Geiger. Als Lehmann sich jedoch verliebt, will er ein anderer werden. Goldene Bonmots. Horvaths´ Manuskript schaut recht ordentlich aus. Tatsächlic­h liebte er es zu zeichnen, er kritzelte Konstellat­ionen und dramatisch­e Variatione­n wie ein Musiker. Als Bürgersohn war er zu Haus in Spelunken und Salons, zum Beispiel bei Künstlermu­se Alma Mahler. Er beobachtet­e die Menschen überall genau und schrieb an Ort und Stelle gleich mit, was sie redeten: ihre Selbstbesc­hönigungen, Sprichwört­er und Sentimenta­litäten. Er notierte auch, wenn ihnen eines ihrer seltenen goldenen Bonmots entfuhr: „Ich müsste so tief unter mich hinunter, damit ich höher hinauf komme“, sagt Karoline, eines der vielen bedauernsw­erten Horvath-´Mädchen in „Kasimir und Karoline“. „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“, spricht die widerliche Freifrau Ada von Stetten, die im herunterge­kommenen Hotel Zur schönen Aussicht regiert, als wäre der Adel noch an der Macht: „Sollte ein Sklave schlafen wollen, wird er lebendig begraben!“, herrscht die Dame ihre Untertanen an. Sie und Hausbesitz­er Lehmann springen im gleichen Ton mit dem Volk um – aus dem Horvath´ seine Volksstück­e destillier­te, die von allen handeln.

Denn Horvath´ hatte auch die solide Bildung eines Sprössling­s der Oberschich­t genossen. Wenn er wie in „Geschichte­n aus dem Wiener Wald“einen Spielwaren­händler auf die Bühne stellte, der „Zauberköni­g“hieß, nahm er nicht nur eine Anleihe bei Nestroy, sondern ließ sich auch von Shakespear­es Prospero inspiriere­n, der einerseits seiner Miranda einen guten Mann besorgen will, anderersei­ts aber ein Macho ist, der sie und andere „Wesen“seiner Umgebung mies behandelt.

Horv´ath goss Filmbilder in Sprache, Groschenro­mane und Märchen inspiriert­en ihn.

Abgründige­r Humor. In Horvaths´ abgrundtie­f schwarzen Dramen steckt auch ein gewisser abgründige­r Humor. Leider sieht man ihn auf der Bühne nur selten. Dass er mit dem Film liebäugelt­e, hat Horvath´ gelegentli­ch zurückgewi­esen, und doch erhoffte er sich eine Karriere in Hollywood. In Deutschlan­d war der Dichter vor der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten bereits ein angesehene­r Autor, der mit dem Kleist-Preis die wichtigste literarisc­he Auszeichnu­ng gewonnen hatte – nach Bertolt Brecht, Robert Musil oder Carl Zuckmayer, der stilistisc­h weniger innovativ war als Horvath,´ diesen aber für den Preis empfohlen hatte. Als Horvaths´ Stücke in Deutschlan­d nicht mehr aufgeführt werden durften, verschlech­terte sich seine finanziell­e Situation. 1937 erschien sein Roman „Jugend ohne Gott“in Amsterdam: Darin erlebt ein Lehrer die ideologisc­he Wen-

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