Horvaths´ verschollener Mysterythriller
Das Theater in der Josefstadt zeigt »Niemand«, ein frühes Stück Ödön von Horv´aths, das an Schwarz-Weiß-Kino erinnert. Lokalaugenschein im Gruselkabinett des berühmten Dichters, der sich in Spelunken und Salons auskannte.
Hoffnung? Ich habe Hunger, Herr Lehmann“, sagt Ursula zum verkrüppelten Hausbesitzer Fürchtegott Lehmann, der sie heiraten möchte und glaubt, sie liebe ihn. „Was ist Mitleid? Schwachsein! Ich danke! Ich lasse mich nicht niederzwingen!“, ruft Lehmann. Am 1. September findet im Theater in der Josefstadt eine Uraufführung Ödön von Horvaths´ statt: „Niemand“(1924). „Die Tragödie in sieben Bildern“des 22-jährigen Diplomatensohnes, der früh Schriftsteller werden wollte, ging verloren und tauchte erst in den Neunzigerjahren wieder auf. Nach mehreren Besitzerwechseln erwarb die Wienbibliothek die 95 mit der Maschine geschriebenen Seiten. Der Thomas-Sessler-Verlag hat die Verwertungsrechte. TV-Stars im Theater. Die Josefstadt, die sich auf ihr bürgerliches Publikum halbwegs verlassen kann, strebt nach überregionaler Anerkennung – mit vielen Uraufführungen, ein gefahrvoller Weg. Mit Schnitzler und Feydeau, die auch gespielt werden, wäre man auf der sicheren Seite. Horvath´ hat im Josefstädter Repertoire seit Jahrzehnten einen fixen Platz. Aber: Eine Horvath-´ Uraufführung könnte auch die deutschen Kritiker interessieren. Hausherr Herbert Föttinger inszeniert. Mit „Vorstadtweib“Gerti Drassl und Florian Teichtmeister („Altes Geld“) hat man eine Besetzung „bekannt aus Film und Fernsehen“gewählt. Teichtmeister und Drassl wurden allerdings in der Josefstadt geformt, wo sie etwa in Nestroys „Talisman“das Publikum erfreuten. Unbekannte Werke berühmter Dichter blieben oft nicht zufällig unentdeckt. Trouvaillen gelten als unreif. Mit dieser hier ist es anders. Dass sich in „Niemand“, wie man in Kommentaren lesen kann, bereits viele Motive, Fi- guren und Themen finden, die Horvath´ zu einem der bedeutendsten Dichter der Moderne machten, stimmt. Die Versuchsanordnung ist exemplarisch, sie erinnert an Kafka, Dostojewski, an Samuel Beckett oder auch an Elias Canettis viel später entstandene „Hochzeit“: Der Pfandleiher und Hausbesitzer Lehmann tyrannisiert seine armseligen Mieter: Prostituierte, Säufer, eine Kellnerin, einen Geiger. Als Lehmann sich jedoch verliebt, will er ein anderer werden. Goldene Bonmots. Horvaths´ Manuskript schaut recht ordentlich aus. Tatsächlich liebte er es zu zeichnen, er kritzelte Konstellationen und dramatische Variationen wie ein Musiker. Als Bürgersohn war er zu Haus in Spelunken und Salons, zum Beispiel bei Künstlermuse Alma Mahler. Er beobachtete die Menschen überall genau und schrieb an Ort und Stelle gleich mit, was sie redeten: ihre Selbstbeschönigungen, Sprichwörter und Sentimentalitäten. Er notierte auch, wenn ihnen eines ihrer seltenen goldenen Bonmots entfuhr: „Ich müsste so tief unter mich hinunter, damit ich höher hinauf komme“, sagt Karoline, eines der vielen bedauernswerten Horvath-´Mädchen in „Kasimir und Karoline“. „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“, spricht die widerliche Freifrau Ada von Stetten, die im heruntergekommenen Hotel Zur schönen Aussicht regiert, als wäre der Adel noch an der Macht: „Sollte ein Sklave schlafen wollen, wird er lebendig begraben!“, herrscht die Dame ihre Untertanen an. Sie und Hausbesitzer Lehmann springen im gleichen Ton mit dem Volk um – aus dem Horvath´ seine Volksstücke destillierte, die von allen handeln.
Denn Horvath´ hatte auch die solide Bildung eines Sprösslings der Oberschicht genossen. Wenn er wie in „Geschichten aus dem Wiener Wald“einen Spielwarenhändler auf die Bühne stellte, der „Zauberkönig“hieß, nahm er nicht nur eine Anleihe bei Nestroy, sondern ließ sich auch von Shakespeares Prospero inspirieren, der einerseits seiner Miranda einen guten Mann besorgen will, andererseits aber ein Macho ist, der sie und andere „Wesen“seiner Umgebung mies behandelt.
Horv´ath goss Filmbilder in Sprache, Groschenromane und Märchen inspirierten ihn.
Abgründiger Humor. In Horvaths´ abgrundtief schwarzen Dramen steckt auch ein gewisser abgründiger Humor. Leider sieht man ihn auf der Bühne nur selten. Dass er mit dem Film liebäugelte, hat Horvath´ gelegentlich zurückgewiesen, und doch erhoffte er sich eine Karriere in Hollywood. In Deutschland war der Dichter vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten bereits ein angesehener Autor, der mit dem Kleist-Preis die wichtigste literarische Auszeichnung gewonnen hatte – nach Bertolt Brecht, Robert Musil oder Carl Zuckmayer, der stilistisch weniger innovativ war als Horvath,´ diesen aber für den Preis empfohlen hatte. Als Horvaths´ Stücke in Deutschland nicht mehr aufgeführt werden durften, verschlechterte sich seine finanzielle Situation. 1937 erschien sein Roman „Jugend ohne Gott“in Amsterdam: Darin erlebt ein Lehrer die ideologische Wen-