Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Gott ist nicht tot. Die These vom Verschwind­en der Religion wird nicht nur vom Islamismus widerlegt, sondern auch von China, das bald das größte christlich­e Land der Welt werden könnte.

Es ist noch nicht lange her, dass viele Sozialwiss­enschaftle­r vom Verschwind­en der Religionen, zumindest von ihrem Fall in die Bedeutungs­losigkeit, gesprochen haben. Nicht nur die islamistis­che Dynamik hat diese These widerlegt. Man sieht es auch an der Volksrepub­lik China – wo das Regime nur deshalb ab 1979 den Religionen etwas Bewegungsf­reiheit zugestand, weil es an ihr baldiges Verschwind­en glaubte. Das Gegenteil war der Fall. Heute gehören mehr Chinesen einer der Weltreligi­onen an als jemals zuvor. Und es werden immer mehr. So gab es nur drei Millionen Christen, als Mao 1949 die Macht übernahm. Heute dürfte ihre Zahl – basierend auf den Schätzunge­n des Pew Institute – bei über 70 Millionen liegen. Schreitet das Wachstum im selben Tempo fort, dann könnte China in 25 Jahren mit 260 Millionen eine größere christlich­e Bevölkerun­g haben als jedes andere Land der Welt.

Die kommunisti­sche Führungsel­ite hat dazu ein ambivalent­es Verhältnis. Einerseits fürchtet man die Konkurrenz der organisier­ten Religion für die Partei. Anderersei­ts dürfte es aber auch Kreise geben, die nicht mehr an die Bindungskr­aft des Kommunismu­s glauben und im Christentu­m eine neue Möglichkei­t sehen, die chinesisch­e Gesellscha­ft zu stabilisie­ren.

Beidem entspricht die derzeitige Politik, Religion in Maßen zuzulassen – solange die Partei sie kontrollie­ren kann. Das gelingt mit dem zersplitte­rten Protestant­ismus besser als mit der (in China kleineren) katholisch­en Kirche, die vom Ausland – aus Rom – gelenkt wird. Daher gibt es in China eine der Partei hörige „offizielle“katholisch­e Kirche und eine Untergrund­kirche in Gemeinscha­ft mit dem Papst, die deutlich mehr Mitglieder hat.

Vincent Huang Shoucheng etwa, der Ende Juli verstorben­e Untergrund­bischof von Mindong, war 35 Jahre seines Priestertu­ms eingesperr­t. Mindong hatte 1949 rund 26.000 Katholiken. Heute sind es 90.000, von denen 80.000 der Untergrund­kirche angehören. Dass die Behörden nicht nur ein öffentlich­es Begräbnis für den Bischof erlaubt haben, sondern dabei auch die Verwendung der Bischofsin­signien, war ein Novum – ist aber kein Zeichen für ein Tauwetter, sondern nur die Bemühung um ein gutes Klima, denn der Vatikan und Chinas Führung verhandeln gerade einen neuen Modus vivendi.

Auf beiden Seiten gibt es Falken und Tauben in diesem Ringen, und sein Ausgang ist offen. Eine vernünftig­e Einigung würde der katholisch­en Kirche und damit dem ganzen Christentu­m in China jedenfalls eine noch stärkere Dynamik verleihen, die das Land verändern kann. Wer hätte je eine solche Prognose gewagt? Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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