Italien stößt an seine Grenzen in der Flüchtlingskrise
Überfüllte Unterkünfte, endlose Bürokratie. Zehntausende Migranten, großteils aus Afrika, drängen in den Norden. Doch sie hängen in Italien fest.
gen verkauft. „Die Menschen sind einfach wütend“, sagt er. Nicht auf die Flüchtlinge. Auf die Politiker. Im nahen Mailand soll nun eine ehemalige Kaserne als Unterkunft für die gestrandeten Flüchtlinge dienen. Auch in Como gäbe es eine. „Aber sie stellen lieber Container auf“, sagt Franco und schüttelt den Kopf.
Auch Tom Wynige aus Zürich und Karolina Gjorgjieva aus Stuttgart haben Zweifel an dieser angeblichen Lösung. Tom hat 2015 die Hilfsorganisation „One Love“gegründet und verteilt Tee im Park in Como. Karolina ist freiwillig hier und hilft. Im September wollen sie wiederkommen. Dann sollen die wenigen Waschräume, die aufgestellt wurden, wieder verschwinden, sagt Tom. Dass die 50 Wohncontainer, in denen die Flüchtlinge unterkommen sollen, dann schon stehen, bezweifelt der 25-Jährige. Laut Plan sollen diese Mitte September neben dem städtischen Friedhof aufgestellt werden und etwa 400 Menschen Platz bieten. Die ersten Container sollen schon in den kommenden Tagen kommen.
Wenn es so weit ist, will Abla schon nicht mehr hier sein. Der 17-Jährige kommt aus Gambia. Seit zwei Monaten ist er in Italien, seit einer Woche in Como. Er habe drei Freunde in Deutschland, erzählt er. Zu ihnen möchte er. Erst gestern hat Abla wieder versucht, in die Schweiz zu gelangen. Er ist in den Zug gestiegen, ist aber in Chiasso von der Polizei aufgegriffen worden. Sie hat den Burschen, der sich immer wieder ängstlich umschaut, während er spricht, wieder zurückgebracht. Er schläft nicht im Camp. „Ich sitze die ganze Nacht über wach – was ich anhabe, das ist alles, was ich habe. Und mein Telefon. Wenn sie mir das stehlen – ich wüsste nicht mehr weiter.“
Morgen will Abla es wieder versuchen, erzählt er. Vielleicht zu Fuß, aber seine Schuhe drücken. Größe 42, Elisabetta schreibt es auf. Morgen kommt sie wieder in den Park. Abla hofft, dass in ihrer Tasche dann neue Schuhe für ihn sind. Es ist eine Geste, die viele berührt: Flüchtlinge packen in Italien bei der Hilfe nach dem Erdbeben mit an. Sie haben sich aus der Asylunterkunft in Montepadrone bei Ascoli nach Amandola bringen lassen und helfen beim Errichten einer Zeltstadt für diejenigen, die bei dem Beben am 24. August alles verloren haben. „Wir wollen unseren italienischen Brüdern helfen“, erklären sie vor den Fernsehkameras. Manche spenden sogar einen Teil ihres kleinen Taschengeldes, das sie als Flüchtlinge bekommen – 2,50 Euro am Tag.
In diesem Jahr sind bis Ende August 112.097 Menschen über das Mittelmeer nach Italien gekommen. Allein in den letzten Augusttagen waren es rund 12.000, die aus dem Meer gerettet wurden. Dennoch: Die Gesamtzahl der ankommenden Flüchtlinge in Italien ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gesunken. Von Jänner bis August 2015 sind 116.149 Menschen nach Italien gekommen. Im gesamten Jahr 2015 waren es 153.842. Die Befürchtungen, durch das EU-Türkei-Abkommen erhöhe sich die Zahl der Flüchtlinge in Italien dramatisch, haben sich nicht bewahrheitet.
Nach Italien kommen nur wenige Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Die meisten stammen aus Afrika, Nigeria, Eritrea, dem Sudan oder Gambia. Viele wollen weiter – nach Deutschland oder Frankreich. Bis Ende Juli 2016 stellten nur 61.024 (2015: 83.970) einen Asylantrag. Doch die Grenzen zu den Nachbarländern, nach Frankreich, Österreich und in die Schweiz, werden immer stärker kontrolliert. So sind viele, die eigentlich weiter wollten, gezwungen, in Italien zu bleiben. 147.722 Menschen sind derzeit in Hotspots, in Erstaufnahmestellen oder in Unterkünften für Asylbewerber untergebracht (2015: 103.792). Die Flüchtlinge werden nach einer Quote auf die 20 Regionen des Landes verteilt – die meisten sind auf Sizilien (elf Prozent) und in der Lombardei (13 Prozent). Die Obergrenze, die Italien verkraften kann, wird mit 150.000 beziffert.
Die Zustände in den oft überfüllten Erstunterkünften und die endlose Bürokratie zermürbt viele. In Salerno demonstrierten vor wenigen Tagen Flüchtlinge gegen ihre ausweglose Situation. Zwei Jahre würden sie auf ihre Dokumente warten – eine legale Arbeit könnten sie bis dahin keine finden. Mache erzählen, sie würden für fünf Euro pro Tag schwarz arbeiten. Auch wenn sie von den Grenzschützern in Österreich, Frankreich und der Schweiz abgefangen und wieder nach Italien zurückgebracht werden, so wie es die Dublin-Regelung der EU vorsieht, versuchen es viele Flüchtlinge dennoch. So haben sich in den Grenzorten Ventimiglia und Como regelrechte Camps der Hoffenden gebildet. Auch in Mailand stauen sich derzeit etwa 3500 Menschen, die gen Norden wollen. Kooperation mit Afrika. Der Präsident des Roten Kreuzes Italien, Francesco Rocca, richtet seine Kritik gegen die EU. Ohne die Hilfe von Freiwilligen sei der Frieden in der Flüchtlingskrise schon längst dahin. Gehe es um Migranten, sei die EU nicht mehr existent. „Was ist aus dem Plan der Verteilung in Europa geworden?“, fragt er. Von den vereinbarten 160.000 Flüchtlingen, die aus Griechenland und Italien in andere EUStaaten gebracht werden sollten, sollen bisher noch nicht einmal 2000 in ein anderes Land gekommen sein. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren es aus Italien 961.
Doch Ministerpräsident Matteo Renzi hat seinen Glauben in die EU noch nicht aufgegeben. Um den Strom der Flüchtlinge dauerhaft zu senken, wirbt er seit einiger Zeit in Brüssel für seinen „Migration Compact“, einen Migrationspakt mit Partnerländern in Afrika. Für diese sieht der Plan finanzielle Hilfe, Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung und legale Ausreisemöglichkeiten nach Europa vor.
Im Gegenzug würden sich die afrikanischen Länder verpflichten, ihre Grenzen effektiver zu kontrollieren und bei der Rücknahme von abgelehnten Asylwerbern besser zu kooperieren. Außerdem vorgesehen: Asylverfahren für die EU sollen vor Ort durchgeführt werden. Beispielsweise im Niger, einem der sieben Pilotländer, mit denen Italien den Migrationspakt möglichst schnell schließen möchte. Renzi hofft außerdem darauf, seine Kollegen aus den EU-Mitgliedsstaaten endlich von einer fairen Verteilung der Flüchtlinge in der ganzen EU überzeugen zu können. Am 16. September in Bratislava hat er dazu wieder Gelegenheit.
Abla sitzt nachts wach: »Was ich anhabe, ist alles, was ich habe – und das Telefon.»