»Sozialstaat und freie Migration sind unvereinbar«
Clemens Fuest, der neue Präsident des Münchner IFO-Instituts, fordert Einschränkungen bei der Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger, eine Radikalreform des EU-Budgets und mehr Mut zu Schuldenschnitten.
In Österreich und Deutschland wächst die Wirtschaft mit 1,5 Prozent. Angesichts der Rahmenbedingungen – Nullzinsen, niedriger Ölpreis, schwacher Euro – ist das doch erstaunlich mager. Warum geht nicht mehr? Sind wir auf dem Weg zur „Japanisierung“? Clemens Fuest: Die Situation hat Ähnlichkeiten mit jener in Japan. Dort hat man nach einer Schuldenkrise die Banken nicht verpflichtet, faule Kredite abzuschreiben, sondern sie mit Liquidität versorgt und gehofft, die Schulden würden mit der Zeit von selbst verschwinden. In Europa haben wir ähnlich reagiert. Unangenehme Entscheidungen werden verschoben. So verhindert man einen kurzfristigen Einbruch. Aber der gewaltige Nachteil ist, dass wenig Neues entsteht. Wenn Staaten bis über die Halskrause verschuldet sind, gibt es Unsicherheit. Investitionen bleiben aus. Die Menschen trauen dem Braten nicht. Warum hat Europa diesen Weg gewählt? Wenn man Schulden abschreibt, muss man diejenigen benennen, die die Kos- ten tragen. Damit macht man sich Feinde. Es ist viel einfacher, so zu tun, als gäbe es keinen Schaden, und die Kosten breit zu verteilen. Das tut man, wenn man so wie jetzt die Zinsen stark herunterzieht. Das ist politisch attraktiver. Aber der Preis ist Stagnation. Der radikale Weg wurde auch aus Furcht vor einem neuen Crash nicht eingeschlagen. Besteht diese Gefahr heute nicht mehr? Die Banken sind heute besser aufgestellt. Die EU-Bankenunion ermöglicht es, Institute zu stabilisieren, wobei die Gläubiger haften und nicht die Steuerzahler. Wenn man das konzentriert und nicht überfallsartig macht, muss es keine großen Erschütterungen auslösen. Viele Ihrer Kollegen setzen eher auf Strukturreformen in den Krisenstaaten . . . Strukturreformen sind sehr wichtig. In Italien ist die Wirtschaftsleistung heute nicht höher als vor 15 Jahren. Das ist einmalig in der Wirtschaftsgeschichte, das hat nichts mehr mit Konjunktur oder Sparpolitik zu tun. Das sind ganz klar Strukturprobleme: bei Arbeitsmarkt, Justiz und Steuersystem. Da müssen Reformen passieren. Aber das Problem der Überschuldung werden sie nicht lösen. Und es verschärft sich, wenn wir uns noch mehr verschulden. Ihr Vorgänger am IFO-Institut Hans-Werner Sinn war von Anfang an ein vehementer Kritiker der Griechenland-Rettung. Und Sie? Ich hatte und habe Verständnis für das erste Hilfspaket. 2010 gab es eine Ansteckungsgefahr, die erst durch die Rettungsschirme gebannt wurde. Aber danach hätte man sofort einen Schuldenschnitt vorbereiten müssen: die Banken zwingen, ihre Bestände an Staatsanleihen abzubauen. Da hat man zu lang gezögert. Die privaten Gläubiger wurden ausbezahlt. Nun sind die Eurostaaten Gläubiger Griechenlands. Das führt zu einem Konflikt, der die Atmosphäre vergiftet. Und die Politik verschleiert die ungelösten Probleme. Kredite mit unendlicher Tilgungsfrist und null Zinsen zu vergeben ist das Gleiche wie verschenken. Man nennt es nur nicht so. Sie fordern Strenge für die Defizitsünder Spanien und Portugal. Aber die Briten sollen in den Brexit-Verhandlungen sanft behandelt werden. Warum? Geht es nicht in beiden Fällen um die Einhaltung von Regeln? Das sehe ich nicht so. Im Fall der Defizitsünder werden Lasten auf andere abgewälzt. Wenn Portugal und Spanien sich nicht an die Spielregeln halten, bezahlen das die Steuerzahler anderer Länder. Umgekehrt profitieren Spanien und Portugal davon, wenn sie die Regeln befolgen. Im britischen Fall geht es um anderes: Wie können wir gemeinsame Interessen weiter verfolgen? Weiter Handel zu treiben, ist einfach besser. Bei den Verhandlungen einen Krieg anzufangen, wäre irrational, weil es beide Seiten schädigt. Wenn man die Briten Rosinen picken lässt, lädt man doch andere EU-Staaten geradezu ein, es ihnen gleichzutun . . . Das glaube ich nicht. Wir haben ja gesehen, dass ökonomische Nachteile nicht von einem Austritt abhalten, wenn die Bevölkerung den Eindruck hat, dass Brüssel gegen die eigenen Interessen entscheidet. Die Brexit-Befürworter beschrieben Brüssel als machthungriges Zentrum, das alles niedermacht, was sich in den Weg stellt. Eine harte Haltung würde diesen Eindruck bestätigen. Dann könnte Nigel Farage sagen: „Seht her, so ist die EU.“Das macht sie mit Ländern, die aufmucken. Durch den Brexit fällt ein wichtiger Nettozahler weg. Muss das EU-Budget gekürzt werden? Und wenn ja: wo? Es gibt viele Bereiche, wo man ohne großen Schaden kürzen könnte. Das EU-Budget gehört komplett umgebaut, es ist in der heutigen Form kontraproduktiv. Die Agrarausgaben sind nicht mehr ganz so unsinnig und schädlich wie früher, aber es ist trotzdem nicht einzusehen, warum man 40 Prozent des Budgets für einen schrumpfenden Sektor ausgibt. Oder in der Regionalpolitik: Die EU finanziert in Bayern Radwege an der Donau. Das können die Bayern selbst. Es gibt überhaupt kein europäisches Interesse daran. Wozu gibt es dann solche Projekte? Weil man zuerst entscheidet, wie viel Geld man in Summe ausgibt, und dann versucht jedes Land, so viel zurückzukriegen, wie es kann. Das ist komplett ineffizient. In anderen Bereichen würde die EU dringend gebraucht, gibt aber kein Geld aus – für Grenzschutz oder eine europäische Eingreiftruppe. Ist daran Brüssel schuld? Nein, das veranstalten die Mitgliedstaaten. Dennoch nimmt die Unzufriedenheit mit der EU zu, was sehr bedauerlich ist. Als die osteuropäischen Staaten beitraten, waren dort Demokratie und Rechtsstaat noch nicht gefestigt. Diesen Ländern hat die EU unwahrscheinlich viel gebracht. Aber die enormen Leistungen geraten aus dem Blick. Es gibt immer mehr EU-Feindlichkeit. In Alpbach haben Hunderte von jungen Leuten geklatscht, als Varoufakis (der griechische Ex-Finanzminister, Anm.) über die EU hergezogen ist. In solchen Zeiten leben wir mittlerweile. Um das umzudrehen, sollte sich die EU auf das konzentrieren, was sie gut kann: Binnenmarkt, Außenpolitik, Verteidigung. Weniger EU-Geld für reiche Länder würde deren Nettozahlerposition schwächen und die Zustimmung zur EU eher nicht erhöhen. Sie könnten dann auch für andere Länder weniger einzahlen. Bei der militärischen Beschaffung wären unglaubliche Einsparungen möglich, wenn man sie zentralisiert, eine europäische Armee hätte. Das erfordert aber einen Verzicht auf Unabhängigkeit. Auf EU-Ebene wurden Hilfen für Bauern beschlossen, weil die Milchpreise so niedrig sind. Wie finden Sie das? In einer Marktwirtschaft sollten die Einkommen der Produzenten sinken, wenn die