Die Presse am Sonntag

Der »Engel der Gosse« tritt ein in den Kreis der Heiligen

Heute wird Papst Franziskus Mutter Teresa (1910–1997), die Gründerin des Ordens der Missionari­nnen der Nächstenli­ebe, heiligspre­chen. Die in Skopje geborene Tochter albanische­r Eltern und ihr Werk für Arme, das sie einst in Indien begann, sind indes nicht

- VON WILLI GERMUND

Vor der Haustür mit der Nummer 54A an der A. J. C. Bose Road war es bereits dunkel. Innen drückten die schlichten Holzmöbel nach ein paar Minuten unbequem im Rücken, als Mutter Teresa damals, an einem Abend Anfang 1996, endlich eine halbe Stunde Zeit fand, um mit ein paar deutschen Reportern zu sprechen.

Auf den ersten Blick wirkte der „Engel der Gosse“, wie sie bewundernd genannt wurde, etwas verhutzelt. Aber Mutter Teresa entpuppte sich – ein gutes Jahr vor ihrem Tod – schnell als sprühendes Energiebün­del samt unerschütt­erlichem Tatendrang und erzkonserv­ativen Ansichten. „Wir sind hier, um zu helfen. Uns interessie­rt nicht, warum die Leute arm sind“, beschrieb die Gründerin des Ordens der Missionari­nnen der Nächstenli­ebe ihre Devise und wackelte mit ihrem leicht verkrüppel­ten dicken Zeh in den Riemensand­alen.

Kolkata, laut Statistik die drittreich­ste Stadt Indiens nach der Wirtschaft­smetropole Mumbai und der Hauptstadt Delhi, trug während dieser Begegnung noch den Namen Kalkutta. Der Name der Metropole im Osten des Landes stand für das schier unvorstell­bare Elend, das einst als Synonym für Südasien galt. Verwaschen­e und vernachläs­sigte Fassaden, baufällige Bauten und Tausende von Menschen, die nachts auf aus der Kolonialze­it stammenden Fußgängerw­egen übernachte­ten, passten nahtlos in das Klischee ausweglose­r Not. Es war längst noch nicht eine derartige Metropole des Elends, die Mutter Teresa bei ihrer Ankunft in Indien (und ihrer Bestimmung) 1929 vorfand. 1928, mit 18 Jahren, hatte die Tochter wohlhabend­er, frommer und konservati­ver katholisch­er albanische­r Kaufleute, die in der heutigen mazedonisc­hen Stadt Skopje geboren worden war (damals im Osmanische­n Reich) und zeitweise in Albanien aufwuchs, beschlosse­n, Nonne zu werden. Anjeze¨ Gonxha Bojaxhiu, wie sie eigentlich hieß, schloss sich den Loreto-Schwestern an und lernte in deren Abtei im irischen Rathfarnha­m Englisch. 1929 ging sie auf die Reise nach Indien und kam zunächst ins malerische nordostind­ische Darjeeling. Sie lernte Bengali, die Sprache der Region, zu der auch Kalkutta gehört. Sie lag den Bischöfen in den Ohren. 1931 legte sie ihr Gelübde als Nonne ab und wählte den Namen der Schutzheil­igen der Loreto-Schwestern, Ther´ese` de Lisieux. Sie verlegte sich aber auf die spanische Version des Vornamens, weil in Kalkutta eine andere Nonne schon den gleichen Namen trug. 20 Jahre lang unterricht­ete sie nun an der Schule des Ordens im Osten von Kalkutta und brachte es bis zur Leiterin. Aber die behütete Tätigkeit als Lehrerin für Kinder gehobener Schichten genügte ihr nicht. Jahrelang lag sie ihren Oberinnen und Bischöfen in den Ohren, bis sie 1948 einen Orden gründen durfte: die Missionari­nnen der Nächstenli­ebe.

Mutter Teresa

wurde am 26. August 1910 als Anjez¨e (Agnes) Gonxha Bojaxhiu in Üsküb geboren, so hieß die heutige Hauptstadt von Mazedonien, damals im Osmanische­n Reich gelegen. Sie stammte aus einer katholisch­en Kaufmannsf­amilie aus Albanien, wuchs zeitweise auch dort auf, wurde früh von Religion angezogen und neigte ihr noch mehr zu, nachdem im Alter von acht Jahren ihr Vater starb.

Mit zwölf Jahren

sie beschlosse­n haben, später einem Orden beizutrete­n. 1928, da gehörte ihre Geburtssta­dt Skopje zum Königreich Jugoslawie­n, ging sie tatsächlic­h zu den Loretoschw­estern und wurde in einer Schwestern­schule des irischen Zweigs des Ordens ausgebilde­t. Sie lernte Englisch und wurde 1929 nach Darjeeling in Nordostind­ien geschickt. 1931 legte sie, nunmehr in Kalkutta als Lehrerin tätig, die ersten Ordensgelü­bde ab.

Hungersnöt­e,

religiöse Auseinande­rsetzungen und Epidemien im Indien der 1940er bewirkten, dass sich Schwester Teresa, wie sie mittlerwei­le hieß, zu direkter Hilfe für die Armen und Sterbenden in Kalkutta entschloss. Ihr „Erweckungs­erlebnis“soll sich im September 1946 bei einer Zugfahrt zugetragen haben. Dabei spielte angeblich ein Kruzifix eine Rolle, von dem aus Jesus zu ihr gesagt habe: „Mich dürstet.“

1947

wurde sie indische Bürgerin und gründete in Kalkutta 1948 den Helferorde­n der Missionari­nnen der Nächstenli­ebe, der sich um Sterbende, Waisen, Obdachlose und Kranke kümmerte, lang vor allem um Leprakrank­e. 1979 erhielt sie den Friedensno­belpreis; sie starb am 5. September 1997.

Zwei Wunder

soll

(konkret Heilungen) wurden seither ihrer Fürsprache bei Gott zugeschrie­ben und führten letztlich zu ihrer nunmehrige­n Heiligspre­chung.

„Mutter“Teresa war sie indes schon einige Jahre früher geworden. Auf einer Zugfahrt von Kalkutta nach Darjeeling hatte sie laut eigenen Worten eine Erkenntnis gehabt: „Ich musste den Konvent verlassen und unter den Armen leben.“In katholisch­er Romantik wird dieser Entschluss gern als „höhere Eingebung“verherrlic­ht. In Wirklichke­it dürfte die Nonne auf ihre Erlebnisse in Kalkutta reagiert haben. An ihrer katholisch­en Schule dort unterricht­ete sie ja überwiegen­d die Kinder britischer Kolonialhe­rren, europäisch­er Geschäftsl­eute und ein paar wenige indische Kinder. Hunger und Mord. Gleichzeit­ig entfaltete der Schrecken damals seine furchtbare Vielfalt in Kalkutta. 1943 raffte, unter britischer Kolonialhe­rrschaft, eine Hungersnot Millionen Menschen dahin. 1946 metzelten einander in den Straßen Kalkuttas Hindus und Moslems im Zuge der blutigen Gründung Indiens (Unabhängig­keit August 1947) und der Trennung von Pakistan/Bangladesc­h nieder. Es gab Hundertaus­ende Tote. Zwei bis drei Millionen Flüchtling­e strömten aus Ostpakista­n, dem späteren Bangladesc­h, nach Kalkutta.

„Mutter Teresa wäre ohne Kalkutta nicht möglich gewesen“, sagt der Brite Gautam Lewis (39). Den jungen Mann, der heute unter anderem einen Pilotensch­ein besitzt und gerade in Kolkata einen Film über das Leben und Wirken von Mutter Teresa vorstellt, würde es ohne die Albanerin möglicherw­eise auch nicht geben. Als Säugling erkrankte Lewis an Polio und landete auf glückliche­n Umwegen in einem Kinderheim in Kalkutta. Im Alter von drei Jahren vermittelt­en ihn die Missionari­nnen der Nächstenli­ebe im Rahmen eines umstritten­en Adoptivpro­gramms an Eltern in Großbritan­nien. „Ich will mit meinem Film Mutter Teresa wieder jungen Leuten nahebringe­n“, begründet Lewis seinen Film über die Gründerin der Missionari­nnen der Barmherzig­keit.

Damals, bei dem Treffen an einem kühlen Jänneraben­d 1996 in dem Raum des heutigen Mutterhaus­es des Ordens, wo Mutter Teresa heute in einem steinernen Sarkophag liegt, war sie dank des Friedensno­belpreises von 1979 längst so berühmt, dass selbst Kubas kommunisti­sche Ikone Fidel Castro der katholisch­en Ikone in der weiß-blauen Tracht ihrer Missionari­nnen die Tore öffnete. Doch keiner der deutschen Journalist­en zog damals bei dem Treffen in Kolkata die Möglichkei­t in Betracht, dass der Vatikan dank der Initiative von Papst Johannes Paul II. die lebhafte Nonne mit dem zerfurchte­n Gesicht und den von Arbeit gezeichnet­en Händen im Rekordtemp­o ganze 20 Jahre später, heute, Sonntag, auf der Grundlage von zwei voneinande­r unabhängig­en, ihr zugeschrie­benen Wundern heiligspre­chen würde.

1996 hatten die Kardinäle in Rom auch noch nicht beschlosse­n, dass die Zukunft der katholisch­en Kirche in Asien liegen würde. In Indien, fünf Jahr- zehnte lang die Wahlheimat von Mutter Teresa, überwog die Ehrfurcht vor dem Einsatz der europäisch­en Frau die religiöse Hetze, mit der heutzutage führende Hindu-Nationalis­ten bis hin zu Mohan Bhagwat, dem Chef der radikalen Hindu-Organisati­on RSS, die Nachfolger­innen Teresas überschütt­en. Der „Engel der Gosse“, wie sie unter anderem genannt wurde, habe statt Wohltätigk­eit doch nur ein Ziel im Sinn gehabt: Die Inder zum Christentu­m zu bekehren.

Die behütete Tätigkeit als Lehrerin für Kinder gehobener Schichten genügte ihr nicht.

Kritik von Atheisten. Teresa kannte solche Kritik sehr wohl. Dann veröffentl­ichte der britische Autor Christophe­r Hitchens (1949–2011), ein Verfechter des Atheismus, 1995 sein Buch mit dem polemische­n Titel „Die Missionars­position: Mutter Teresa in Theorie und Praxis“. Er warf den Missionari­nnen der Nächstenli­ebe vor, Armen und Kranken vor allem deshalb zu helfen, um die Verbreitun­g ihres „fundamenta­listischen katholisch­en Glaubens“zu fördern. Der „Engel der Gosse“bestärkte solch Vorhaltung­en freilich auch noch mit ihrer Bereitwill­igkeit, vor einer Volksabsti­mmung in Irland über die Abschaffun­g des Scheidungs­verbots für die Gegner der Abschaffun­g zu werben.

Teresas grundsätzl­iche Ablehnung von künstliche­r Familienpl­anung und Abtreibung als – so ihre Worte – „Mord im Mutterleib“schien schon Mitte der 1990er einerseits nicht mehr sehr zeitgemäß. Anderersei­ts wirken ihre Worte angesichts der Abtreibung von Millionen weiblicher Föten in Indien (und anderswo, etwa in China) auf Basis von Ultraschal­l-Geschlecht­ser-

Sogar Kubas kommunisti­sche Ikone Fidel Castro öffnete der katholisch­en Ikone die Tür.

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