Religion und Rebellion: Die Türkei in
Nichts lässt den bis heute wirkenden kulturellen Bruch unter Atatürk so lebhaft nachempfinden wie die türkische Literatur: Leseempfehlungen für all jene, die dieses zerrissene Land auch mithilfe einstiger und heutiger Schriftsteller verstehen wollen.
Gut, dass er den Nobelpreis bekommen hat, jetzt wird er endlich verständlich“: Dieser Witz kursiert in der Türkei über Orhan Pamuk, den Literaturnobelpreisträger. Dessen Bücher, meinen nämlich viele Kritiker, seien in der Übersetzung besser als im Original.
Pamuk, ein schlechter Stilist, einer, der mit dem Türkischen gar nicht innig vertraut ist? Wer so etwas behauptet, macht sich politischer Missgunst verdächtig. Einem Autor, der so westlich geprägt ist und immer wieder die Politik seines Landes kritisiere, der wegen Beleidigung des Türkentums angeklagt wurde, flickt man in der Türkei natürlich gern ans Zeug. Doch ist es nur das? Besser auf Deutsch? „Pamuk ist wegen seines schlechten Türkisch nicht so beliebt“, sagt die türkische Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Gülperi Sert, deren Übersetzungen von Kafka und Stefan Zweig zu den wichtigsten auf dem türkischen Buchmarkt gehören. „Jede Sprache hat Sprichwörter, Redewendungen . . . Ihm fehlt der Reichtum des Ausdrucks, und er macht sprachliche Fehler, ist oft wirklich nicht verständlich.“Sert erzählt von einer gebürtigen Türkin und emeritierten deutschen Uni-Professorin, die begeistert ein Pamuk-Buch auf Deutsch gelesen und dasselbe dann im Original besorgt habe: „Sie hat es schwer enttäuscht zur Seite gelegt.“Pamuk habe das Glück, hervorragende Übersetzer zu haben, findet auch der deutsch-türkische Autor Feridun Zaimoglu:˘ „Für mich ist er wegen seines recht schlampigen Umgangs mit der türkischen Sprache kein relevanter Schreiber.“
Auch in der Türkei hat Pamuk freilich viele Fans, und selbst wenn die Kritiker recht haben sollten, muss man sich dadurch nicht die Freude an den deutschen Versionen von „Schnee“oder „Rot ist mein Name“verderben lassen. Allerdings, gibt die Übersetzerin Sabine Adatepe zu bedenken, seien die deutschen Versionen bei den meisten Verlagen „mehr oder weniger stark geglättet und gekürzt, nicht vom Übersetzer, sondern vom Lektorat“. Ein Wütender in Diyarbakır. Auf jeden Fall hat die türkische Literatur noch viele andere Autoren zu bieten. Adatepe hat etwa den 44-jährigen türkischen Schriftsteller Murat Uyurkulak über- setzt. Er zählt zu den jüngeren Autoren, die Vergangenheitsbewältigung einfordern und sie in ihren Büchern selbst betreiben, ein Verteidiger der kurdischen Minderheit und auch dieser Tage hoch aktiv. Anders als seine für eine kurdische Zeitung schreibende und nun verhaftete Kollegin Aslı Erdogan˘ kann er das (noch). Sein 2006 erschienener, stilistisch anarchischer und unterhaltsamer Roman „Har“strotzt von
»Wenn dieses Land sich seiner Geschichte erinnert, explodiert es.«
allegorischen Verhüllungen und Fantasy-Elementen (göttliche Wesen suchen zwischendurch nach einem neuen Propheten für das Volk); aus der kurdischen Stadt Diyarbakır, in der Uyurkulak eine Zeit lang lebte, wird die „Mauerstadt“, die Kurden heißen „Khirbos“– und trotzdem sind die aktuellen politischen Bezüge klar wie die Botschaft: „Wenn dieses Land sich seiner Geschichte erinnert, explodiert es.“
Im deutschen Binooki-Verlag ist dieses Buch unter dem Titel „Glut“auf Deutsch erschienen. Uyurkulaks Debütroman „Tol“wiederum, in dem auf einer Zugfahrt zweier Männer von Istanbul nach Diyarbakır anhand eines rätselhaften Manuskripts ein halbes Jahrhundert türkische Geschichte durchquert wird, hat der Schweizer Unionsverlag unter dem Titel „Zorn“herausgegeben. Vergleicht man die Übersetzungen der zwei Bücher, kann man kaum glauben, dass sie vom selben Autor stammen – und gewinnt gerade dadurch einen Eindruck davon, wie schwer übersetzbar sie sind, auch wegen des Durcheinanders sprachlicher Bilder: eine Herausforderung für westliche Metaphernknausrigkeit.
Die fehlende Scheu vor dem Blumigen und Pathetischen zeigt sich auch an türkischen Autoren, die schon lang oder immer schon im Ausland leben. Auch die als Diplomatentochter in etlichen Ländern aufgewachsene, heute hauptsächlich in London lebende und auf Englisch schreibende Elif Safak¸ hat da wenig Berührungsängste. In ihrem neu- en Roman „Der Geruch des Paradieses“, der im Oktober auf Deutsch erscheint, zieht sie auch die Register der religiösen Sprache. Wieder einmal geht es, wie in früheren ihrer Romane, um die Versöhnung von Glauben
»Geglättet und gekürzt, nicht vom Übersetzer, sondern vom Lektorat.«