Die Presse am Sonntag

TABUBRÜCHE

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»Zorn« war das aufsehener­regende Debüt des heute 44-jährigen Murat Uyurkulak, der in seinem Werk intensiv den Umgang der Türkei mit Minderheit­en thematisie­rt. Auf einer Zugfahrt lässt er zwei Männer einander kennenlern­en und verwebt in diese Begegnung die Geschichte der Türkei seit den 1950er-Jahren. Uyurkulak beschreibt unter anderem das zersplitte­rte Innenleben der linken Gruppen, sein Schreibsti­l gilt als außergewöh­nlich.

Die weltpoliti­sche Parallele dazu ist die Nachricht von Hitlers Einmarsch in Polen am Romanschlu­ss. „Wir alle sind Waisenkind­er eines Kulturzerf­alls“, heißt es im Roman einmal. „Warum hat man, bevor man für diese Menschen andere Lebensform­en schuf, die alten zerstört, die ihnen Kraft gaben, das Leben zu ertragen?“ Rebellisch­e Siebziger. Einen ebenfalls orientieru­ngslosen Protagonis­ten hat Oguz˘ Atays verschacht­elter, schon Richtung Postmodern­e weisender und heute noch jung wirkender Roman

Auf Tanpınars Grab steht: »Ich bin nicht in der Zeit und auch nicht ganz außerhalb.«

„Die Haltlosen“(„Tutunamaya­nlar“, 1971). Er hat die türkische Literatur sehr beeinfluss­t – sie wurde zwischen den zwei Militärput­schen in den Siebzigern überhaupt recht rebellisch, formal wie inhaltlich. In Adalet Agao˘glus˘ Roman „Sich hinlegen und sterben“(1973) zieht sich eine Professori­n in ein Hotel in Ankara zum Sterben zurück und sinniert dabei über ihre Suche nach persönlich­er und politische­r Freiheit.

Viel später ließ sie einen Roman über das Verhältnis zwischen der (modernen) Türkei und Europa in Wien spielen: „Romantik Bir Viyana Yazı“– „Ein romantisch­er Wiener Sommer“. Er ist bisher nicht auf Deutsch erschienen.

Dafür kann man seit wenigen Tagen einen anderen, wenn auch nicht türkischen Roman auf Deutsch lesen, in dem Wien und das Osmanische Reich eine Hauptrolle spielen: „Kompass“(„Boussole“) vom französisc­hen Autor Mathias Enard, der dafür den Prix Goncourt bekam. Eine hochgelehr­te Suche nach kulturelle­r Orientieru­ng und Verbindung von „Ost“und „West“– durch historisch­e Erinnerung.

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