Steht uns die Melancholie«
te, besonders stark von ihrer Tradition abgeschnitten. Sie hat sie andererseits befreit – denn die Ausrichtung aufs Arabische behinderte auch die Entfaltung des Türkischen als Literatursprache. Das arabische Metrum war für diese ebenso schlecht geeignet wie die arabische Schrift, in der die Vokale nicht geschrieben werden. Die komplizierte osmanische Lyrik wurde für die mit der Sprachreform Aufgewachsenen zwar unverständlich, aber sie war schon davor so weit entfernt von der Alltagssprache gewesen, dass sie nur einer kleinen Elite zugänglich war. Lyrische Opposition. Die junge geistige Elite der neuen Republik war kulturell westlich orientiert und zugleich von Verlustgefühlen geplagt – und sie litt unter der ideologischen Gängelung. In den frühen Jahren der Republik habe sich „ein Spannungsverhältnis zwischen dem Staat und der geistigen Elite aufgebaut, das das gegenseitige Vertrauen auf Dauer störte und sich in krankhafter Form über alle folgenden Regierungen und Militärputsche fortsetzte“, schreibt Erika Glassen im von ihr herausgegebenen Band „Kultgedichte“. Das Buch ist im Rahmen der 20-bändigen „Türkischen Bibliothek“des Schweizer Unionsverlags erschienen und lässt türkische Schriftsteller jeweils eines ihrer Lieblingsgedichte vorstellen. Eine schöne und aufschlussreiche Art, ein Dreivierteljahrhundert türkischer Lyrik zu durchqueren, bei der man zwischen Gefühlen des Wiedererkennens (westlicher Einflüsse) und der Fremdartigkeit schwankt. Oft denkt man – auch in viel später entstandenen Gedichten – an Dichter wie Rimbaud, Baudelaire oder Trakl, ein Grundton der Schwermut durchzieht den Band. Die Distanz der Schriftsteller zur Macht äußert sich zumindest in dieser Auswahl kaum politisch, obwohl so viele türkische Lyriker Repression erlebt haben – wie Nazımˆ Hikmet, der seit den 1930er-Jahren mit seinen freien Rhythmen die türkische Lyrik revolutioniert hat und als Kommunist zwölf Jahre im Gefängnis gesessen ist. „ich bin schon wegwurf zur seite geräumt, der mensch lebt, ich weiss, nur aus traurigkeit“, schreibt der heute 80-jährige Autor Hilmi Yavuz in seinem Gedicht „dolch und abend“. Seine versammelten Gedichte veröffentlichte er unter dem Titel: „Was uns am besten steht, ist die Melancholie.“