Die Presse am Sonntag

Kerns große Soloshow am Ballhauspl­atz

Als Gastgeber der gestrigen Wiener Flüchtling­skonferenz inszeniert­e sich der Kanzler als EU-Krisenmana­ger. Kein Bundespräs­ident und kein Außenminis­ter störten seinen Auftritt inmitten von Regierungs­chefs wie Angela Merkel, Viktor Orb´an oder Alexis Tsipra

- VON THOMAS VIEREGGE

Im Minutentak­t fahren die Limousinen vor dem Bundeskanz­leramt am abgeriegel­ten Ballhauspl­atz vor, und als die Regierungs­chefs aus Berlin, Budapest, Athen und den Balkanstaa­ten am späten Samstagvor­mittag aus dem Fond aussteigen, präsentier­t sich Wien in schönster herbstlich-imperialer Pracht und der Gastgeber in aufgeräumt-lockerer Stimmung. Die Bühne der großen, internatio­nalen Politik, die er sich in der vergangene­n Woche vor und am Rande der UNO in New York mit Außenminis­ter Sebastian Kurz geteilt hat, gehört in diesen Mittagsstu­nden Christian Kern allein. Keiner, der dem Kanzler als EU-Krisenmana­ger in Österreich die Show stehlen würde – kein Bundespräs­ident und schon gar kein Außenminis­ter.

Vier Monate wird die Hofburg, die Präsidents­chaftskanz­lei vis-a-`vis vom Machtzentr­um der Republik, noch verwaist sein – unter der Voraussetz­ung, dass bei der Präsidente­nwahl am zweiten Adventsonn­tag alles klappen sollte. Wie einst Franz Vranitzky zur Zeit der Waldheim-Affäre vor 30 Jahren scheint der Neo-Kanzler fest entschloss­en, das Vakuum an der Staatsspit­ze zu nutzen.

Jeden seiner Gäste nimmt Kern einzeln in Empfang, mit einem Handshake und begleitet von ein wenig Small Talk vor der Sitzung und dem anschließe­nden Arbeitsess­en, während im Inneren Burghof die Hof- und Deutschmei­ster aufspielen und in k. u. k. Walzerseli­gkeit schwelgen. Besonders herzlich fällt die Begrüßung, so hat es zumindest den Anschein, bei Angela Merkel und Alexis Tsipras aus. Dass Griechenla­nd demonstrat­iv nicht zur von Sebastian Kurz und Johanna Mikl-Leitner initiierte­n Westbalkan­konferenz der Außen- und Innenminis­ter vor sieben Monaten in Wien eingeladen war, löste einen diplomatis­chen Eklat aus.

Die Regierung in Athen reagierte verstimmt, ja, düpiert. Das Außenminis­terium berief die Botschafte­rin aus Wien zurück, der griechisch­e Chefdiplom­at, Nikos Kotzias, attackiert­e Mikl-Leitner in einem Interview mit der „Presse am Sonntag“als „Lügnerin“, und Athen sagte einen Besuch der Innenminis­terin in Griechenla­nd kurzerhand ab. Es dauerte zwei Monate, bis sich die Beziehunge­n zwischen Wien und Athen wieder eingerenkt hatten. Die k. u. k. Diplomatie. Auch die deutsche Kanzlerin, die keinen Vertreter nach Wien geschickt hatte, war konsternie­rt über die Ende Februar in Wien jäh beschlosse­ne Schließung der Westbalkan­route und den Alleingang der Balkanstaa­ten unter der Führung Österreich­s. In deutschen Medien war danach die Rede von einer Renaissanc­e der k. u. k. Diplomatie, und der alerte Kurz wurde quasi zu einem „Metternich“des 21. Jahrhunder­ts geadelt. Inzwischen weiß Merkel die Maßnahme zu würdigen, wenngleich verhalten und fast ein wenig verstohlen. An die große Glocke will sie es nicht hängen. 50.000 Flüchtling­e, zieht sie vor ihren Kollegen in Wien ein Fazit, seien seither dennoch über den Balkan nach Deutschlan­d gekommen – und 18.000 nach Österreich.

Mehr noch als über ihren konservati­ven Parteifreu­nd schäumte Angela Merkel indes über Werner Faymann und den vom Boulevard diktierten rasanten Kurswechse­l ihres Kompagnons in der Flüchtling­skrise. Er hat sie auf dem falschen Fuß erwischt. Unter dem Druck des Ansturms der Flüchtling­e hatten die beiden die Schengen-Regeln ausgehebel­t und die Öffnung der Grenzen veranlasst. Mit einem Mal stand Merkel, ohnehin gezaust von Horst Seehofer, Viktor Orban´ und Konsorten, ziemlich einsam da. Mit Müh’ und Not schloss sie einige Woche später den fragilen EU-Deal mit der Türkei ab, der gestern auch in Wien Modell stand für

Werner Faymanns rasanter Kurswechse­l erwischte Angela Merkel auf dem falschen Fuß.

ähnliche Partnersch­aften mit Ägypten, Jordanien, dem Libanon oder Libyen. Mit Ägypten, Mali, Senegal oder Niger seien überdies Rückführab­kommen von Asylwerber­n avisiert.

Vor einem Monat, bei einer Stippvisit­e auf Schloss Meseberg nördlich von Berlin, unterbreit­ete Kern der deutschen Kanzlerin den Vorschlag für eine Neuauflage der Westbalkan­konferenz unter Einbindung Griechenla­nds und der EU – diesmal allerdings wieder auf Regierungs­ebene. Berlin war 2014 Pate gestanden für die erste Westbalkan­konferenz, als es noch in erster Linie um eine Annäherung zur EU ging. Im Vorjahr warf die Flüchtling­skrise schon ihre Schlagscha­tten auf die Konferenz in Wien, als die Polizei just zum Auftakt des Treffens auf einen abgestellt­en Kühltransp­orter mit 71 Leichen auf der Autobahn nahe Parndorf stieß – was nicht nur bei Merkel einen prägenden Eindruck hinterließ.

Alle Südosteuro­päer waren in der Hauptstadt der früheren Donaumonar­chie vertreten.

An Flüchtling­sgipfeln herrscht derzeit kein Mangel, wohl aber an Lösungsans­ätzen. In Istanbul und jüngst in New York fanden Konferenze­n unter UN-Ägide statt, und viele der Teilnehmer der Wiener Runde trafen Kern – und Kurz – bereits bei der UN-Vollversam­mlung zu Wochenbegi­nn. Zuvor hatte Kern in Visiten in Budapest und Ljubljana die Stimmung bei den Nachbarn ausgelotet, und er war vor allem darum bemüht, das angespannt­e – wenn nicht gar feindselig­e – Verhältnis mit Viktor Orban´ zu entkrampfe­n. Der Kanzler erwog sogar, Matteo Renzi, den italienisc­hen Premier, zur Session mach Wien einzuladen, um so möglichen Irritation­en in Rom vorzubeuge­n. Eine Beteiligun­g Italiens, das die Flüchtling­swelle im Mittelmeer nicht minder trifft als Griechenla­nd, hätte jedoch den Rahmen gesprengt, heißt es in Wien.

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