Die Presse am Sonntag

Am Herd

BRANDHEISS UND HÖCHST PERSÖNLICH

- VO N BETTINA STEINER

Das ist das Gute an Familie. Man kann sich auch einmal irren. Man kann sich auch eine Zeit lang aus den Augen verlieren. Über meine Schwester, mich und ein paar alte Zeilen.

Es ist ein Brief. Eigentlich ein Briefentwu­rf, auf Recyclingp­apier, ja, so war das damals, als ich 20 war: Das Papier war beige, ich schrieb noch mit Tinte und lebte schon in Wien, endlich weit, weit weg von meinen Eltern, weit, weit weg auch von meiner Schwester, die ich nicht vermisste, der ich wenig zu sagen hatte. Und trotzdem. An diesem Abend – es muss Abend gewesen sein, ich erwähne eine Theatervor­stellung, die ich versäumte – schrieb ich ihr einen Brief: über die Liebe. Über die unglücklic­he Liebe, wir hatten darüber geredet, am Telefon, und plötzlich war meine Schwester mir so nahe, wie man das nur sein kann, wenn mehr als 700 Kilometer zwischen einem liegen.

Es war mir unangenehm, diese Zeilen zu lesen, über die ich auf der Suche nach alten Fotos stolperte: Nicht nur, weil ich mit 20 etwas pathetisch­er formuliert­e, als mir das heute lieb ist („Wenn einer liebt und sagt, er hält es nicht mehr aus, dann ist das Selbstbetr­ug“), und ziemlich oberlehrer­haft („Sag ihm, dass . . .“). Nein, damit kann ich leben, einmal ältere Schwester, immer ältere Schwester, und wann soll man schon pathetisch sein, wenn nicht mit 20? Das wirklich Unangenehm­e an diesem sonst liebevolle­n und ehrlichen Brief ist: Ich habe ihn niemals abgeschick­t. Ich habe ihn nie ins Reine geschriebe­n, nie in ein Kuvert gesteckt, habe nie eine Briefmarke drauf gepickt, bin zu keinem Postkasten gegangen, das weiß ich genau. Aus ©en Augen verloren. Sonst hätten wir uns nämlich in den folgenden Jahren nicht aus den Augen verloren, wir hätten häufiger telefonier­t, uns nicht nur im Kreis der Familie getroffen, weil Weihnachte­n war oder Großmamas Geburtstag – sie hätte mich in Wien besucht, einfach so, um mit mir durch die Stadt zu streunen und einen, zwei, drei Gespritzte zu trinken und über die Eltern zu schimpfen, weil das ist ja das Schönste, wenn man Geschwiste­r hat: Man muss nicht lang erklären, warum die Mama nervt und der Papa unmöglich ist.

Warum ich den Brief nicht abgeschick­t habe? Am nächsten Morgen, denke ich mir, hatte sich die Nacht zwischen mich und unser Telefonat geschoben, und anderes war mir wieder wichtiger: die Fußnoten für die Seminararb­eit. Der Freund, von dem ich nicht mehr wusste, warum ich ihn hatte wiederhabe­n wollen. Die spuckende Ölheizung. Die Kollegin, der ich versproche­n hatte, beim Umzug zu helfen: all die studentisc­hen Freuden und Leiden und Alltäglich­keiten. Ich war in Wien, weit, weit weg von meinen Eltern, weit, weit weg von meiner Schwester. Ich war frei. Ich brauchte niemanden.

Dachte ich. Das ist das Gute an Familie. Man kann sich auch irren. Den nächsten Brief habe ich abgeschick­t.

Es war dann halt schon ein Mail.

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