Die Presse am Sonntag

Expedition durch den längsten

NŻch 17 JŻhren BŻuzeit im engeren Sinn wur©e im Juni in ©er Schweiz ©er 57,1 Kilometer lŻnge Gotthard-Basistunne­l eingeweiht. Der Personenve­rkehr ©urch ©iese Top-Verãin©ung zwischen ItŻlien un© ©em Nor©en stŻrtet Żn sich erst im Dezemãer. Die »Presse Żm S

- VON WOLFGANG GREBER

Kälte kriecht – durch die Wände“, heißt es in dem spukhaften Song der kurzlebige­n, lang verblichen­en Schweizer Neue-Deutsche-Welle-Band Grauzone, als deren größter Hit sich im popkollekt­iven Bewusstsei­n zu Unrecht nur „Eisbär“(1981) erhalten hat. Doch hier, in dieser mächtigen, graulichti­gen, ausbetonie­rten Kaverne in den Schweizer Bergen, da kriecht nicht Kälte, sondern Wärme: Man spürt sie in der unbewegten trockenen Luft lange nicht, doch sie kriecht unaufhalts­am durch Jacke, durch das T-Shirt, und jäh spürt man Schweiß unter dem Rucksack.

Dabei steht man an einem Ort, wo die Sonne nie hinkommt, 800 Meter Fels sind es zur Oberfläche des Schweizer Kantons Graubünden beim Dorf Sedrun, und rund 19 Kilometer bis zur nächsten Ausfahrt aus diesem Gebirge, dem Gotthard im Grenzgebie­t zwischen Graubünden, Uri, Tessin und Wallis. In der Tiefe wird es warm. Doch mit der Tiefe wird es in der Erde wärmer, das hat mit dem heißen Erdkern und Radioaktiv­ität zu tun, und die Kaverne, wo an jenem Septembert­ag rund 250 Menschen herumwusel­n, Installati­onen betrachten, fotografie­ren und einen elegant-bombastisc­hen Werbefilm anschauen, ist da unten eine von zwei Nothaltest­ellen (Multifunkt­ionsstatio­nen) jenes eidgenössi­schen Titanenpro­jekts, das am 11. Dezember in Vollbetrie­b geht: nämlich des Gotthard-Ba- sistunnels (GBT), dessen zwei Röhren für Züge über je 57,1 Kilometer in Nordsüdric­htung durch die Berge schneiden.

Damit ist der GBT, der 2010 nach bis dahin elf Jahren Sprengen und Bohren durchschla­gen worden war, der längste Eisenbahnt­unnel der Welt und länger als jeder Straßentun­nel. Über ihm türmen sich bis zu 2500 Meter Gestein, auch das ein Rekord, und an der Stelle darunter im Tunnel wird das Gestein sogar nette 46 Grad heiß.

Heuer, am 1. Juni, hatte man das Werk, an dem zu Spitzenzei­ten 2600 Arbeiter, Ingenieure und andere Beschäftig­te, davon rund 400 Österreich­er, schufteten, eingeweiht. Seither läuft begrenzter Frachtverk­ehr durch, aber richtig los, inklusive Reisender, geht es im Dezember. 45.000 Glückliche konnten bisher Tickets für den Spezialzug Gottardino ergattern, von dem seit Anfang August bis Ende November je zwei an sechs Tagen die Woche zwischen Flüelen im Norden und Biasca im Süden fahren, einen einstündig­en Stopp im Nothalt Sedrun inklusive. Letzteres gibt es ab 11. Dezember, außer im Notfall, nicht mehr, denn dann sausen Güterzüge mit bis zu 160 km/h, Personenzü­ge mit 200 bis 250 km/h durch, 300 bis 330 pro Tag (davon wohl 220 bis 260 Güterzüge), die für die 57 Kilometer 14 bis 21 Minuten brauchen. Die Plätze im Gottardino sind übrigens ausgebucht, heißt es.

Getüftelt hatten die Schweizer lange am GBT, spätestens, als 1947 der Basler Ingenieur Eduard Gruner (1905–1984) im Aufsatz „Reise durch den GotthardBa­sistunnel im Jahr 2000“seine Idee eines 50 km langen Tunnels geschilder­t hatte. Damals hatte er auch einen unterirdis­chen Bahnhof, die Porta Alpina, bei Sedrun skizziert, um dort über einen 800-Meter-Schacht die Surselva, das rätoromani­sch dominierte Tal des Vorderrhei­ns westlich von Chur bis Uri, an den Zugverkehr besser anzuhängen, doch daraus wurde nichts.

Die Züge jŻgen mit ãis zu 250 km/h ©urch ©ie je 57 Kilometer lŻngen Röhren.

Die Welt läuft immer schneller. Nun, aber durch das Massiv hatte es doch 1947 bereits einen Tunnel gegeben, den Gotthardtu­nnel. Ein Schweizer Konsortium hatte ihn 1872 bis 1882 gebaut, 15 Kilometer misst er, er war eine der wichtigste­n Etappen beim Ausbau der alten Haupttrans­itachse zwischen Italien und dem Norden (siehe Geschichte rechts). Mit ihm sank die Reisezeit von Basel an der Grenze zu Deutschlan­d und Frankreich nach Lugano an der Grenze zu Italien (Luftlinie ca. 200 Kilometer) enorm: Bis 1830, als ein Saumpfad über den 2106 Meter hohen Gotthardpa­ss führte, brauchte man zwei Wochen. Als es eine gepflaster­te Passstraße gab, waren es sechs Tage (Fußgänger, Packtiere) bzw. 50 Stunden per Kutsche. Die Gotthardba­hn fuhr mit Dampfloks rund 14 Stunden, moderne Elektrozüg­e brauchen vier Stunden.

Mitte des 20. Jahrhunder­ts sollte das nicht mehr reichen, zudem die Schweiz seit den 1960ern, spätestens den 1980ern und sogar per Verfassung, möglichst viel Schwertran­sitverkehr auf die Schiene verlagern will. Da stieß der alte Tunnel an Grenzen, was an seiner Lage liegt: Er durchstich­t das Gebirge in ziemlicher Höhe, die Portale sind in 1107 Meter (Nord) bzw. 1141 Meter (Süd), Scheitelhö­he: 1151 Meter. Die Züge

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Greãer Der Gotthardpa­ss, Gebäude an der alten (gepflaster­ten) und neuen Passstraße.
 ?? Greãer ?? In der Nothaltest­elle (Multifunkt­ionsstelle) Sedrun, 800 Meter unter Graubünden.
Greãer In der Nothaltest­elle (Multifunkt­ionsstelle) Sedrun, 800 Meter unter Graubünden.
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