Vor 500 Jahren klärt ein Baron den Westen über Russland auf
Im Spätherbst 1516 bricht Sigismund von Herberstein von Augsburg aus zu einer diplomatischen Mission nach Russland auf. Frieden kann er zwar nicht vermitteln, doch das damalige Nebenprodukt seiner Reisen ist bis heute erhellend: Seine Schilderungen der ru
Oststeiermark, April 1945. Die Kämpfe sind erbittert. Etwas abgelegen von der Hauptroute des Vormarsches treffen Rotarmisten auf ein Schloss. Routinemäßig werden die Geschütze auf das Gebäude gerichtet, erste Salven treffen Steinfiguren. Als der Kommandant der Einheit erfährt, so die tradierte Geschichte, dass es sich um Schloss Herberstein handelt, befiehlt er, das Schießen sofort einzustellen. Wachen werden aufgestellt. Das Schloss ist gerettet.
Der Name Herberstein hatte in Russland einen besonderen Klang. Die Reisebeschreibungen Sigmunds, eines Sprosses aus dem Krainer Zweig der weit verzweigten österreichischen Familie, über das russische Land, seine Menschen und deren Lebensweisen standen in jedem Schulbuch. Die Russen fühlten sich von ihm treffend beschrieben, trotz mancher wenig schmeichelhafter Passagen und gewisser Vorurteile. Begründer der Russland-Kunde. Herberstein gilt im Westen als Begründer der Russland-Kunde. Seine Reisebeschreibungen, zuerst in Latein, 1557 als „Moscovia“in Deutsch, schlugen ein. Die Menschen waren begierig, aus erster Hand zu erfahren, was sich im Osten des Kontinents, in Russland, tat. Herberstein war authentisch. Dank seiner altslowenischen Sprachkenntnisse konnte er mit den Russen direkt sprechen, erfuhr mehr als andere.
Herberstein galt als erfolgreicher Diplomat im Auftrag Kaiser Maximilians I. Polen, Litauen, Spanien und Ungarn, ja selbst Sultan Suleiman in Buda, standen auf seiner Reiseliste. Im Spätherbst 1516 war der damals 30-Jährige von Augsburg aus mit elf Gefährten nach Russland aufgebrochen. In ein Land, das sich unter Großfürst Wassili III. anschickte, eine europäische Macht zu werden. Herberstein sollte zunächst Frieden zwischen den im latenten (Klein-)Krieg befindlichen Russen und
Stefan Karner
leitet das Institut für Wirtschaftsgeschichte der Universität Graz sowie das BoltzmannInstitut für Kriegsfolgenforschung. Er ist Ko-Vorsitzender der ÖsterreichischRussischen Historikerkommission. Die Kommission wird im nächste Jahr in Graz und Moskau gemeinsam mit den beiden Botschaften die 500-jährigen Beziehungen zwischen beiden Ländern in zwei Konferenzen und Ausstellungen darstellen. Polen-Litauen vermitteln und sie anschließend für ein Bündnis gegen die Osmanen gewinnen. Diese hatten 1453 das christliche Konstantinopel erobert, den Islam eingeführt, die Kirchen zerstört oder aus ihnen Moscheen gemacht. Anspruch auf Weltherrschaft. Eine delikate Mission, strotzten doch die Moskauer Großfürsten seit Iwan III., dem Vater Wassilis, vor Selbstbewusstsein. Dieser hatte die Nichte des letzten oströmischen Kaisers geheiratet und seinem Wappen stolz auch den oströmischen Doppeladler hinzugefügt – ein Zeichen seines Anspruchs auf Weltherrschaft; später kam noch die Vorstellung von Moskau als „Drittes Rom“dazu. Außerdem hatte Moskau eben die Oberherrschaft mongolischer Khane abgeschüttelt und in der ersten Phase des Sammelns russischer Erde die Fürstentümer Suzdal, Wladimir, Twer oder Nowgorod teils freiwillig, teils gezwungen an sich gebunden.
Die Reiseroute Herbersteins führte über Polen und Litauen, die nördlichen russischen Gebiete um Nowgorod-Weliki (Groß-Neugarten) nach Moskau. Dies alles im Sattel, in der Kutsche oder auf Schlitten. Im Kreml empfing ihn Wassili zwar mit großem Pomp, machte jedoch keine diplomatischen Zugeständnisse. Nach sieben Monaten reiste Herberstein wieder zurück. Auch seine zweite Mission 1526 für Kaiser Karl V. hatte diplomatisch wenig gebracht.
Ganz anders das eigentliche Nebenprodukt seiner Reisen: Seine Schilderungen über das bis dahin in Europa weithin unbekannte Land der „Reissen“wurden weltbekannt. Sie umfassten selbst Erlebtes, Berichte und eigene Recherchen vor Ort und Kenntnisse aus alten Schriften und Karten.
Herbersteins Schilderungen lesen sich leicht, nahezu spannend. Zweifellos prägten sie das westliche RusslandBild über Jahrhunderte, gehörten zur Basisliteratur für die Diplomatie. Oft sind sie voller Vorurteile und Stereotype, die auf seine Sozialisation hinweisen. Seine „Moscovia“teilte er in mehrere Kapitel: Land, Volk, Staat, Wirtschaft und Religion. Ausführlich beschreibt er die Stellung der Frau, das Alltagsleben oder die russische Ehe. Nowgorod vs. Moskau. Zu den weniger bekannten Stellen gehören seine Einblicke in die Stadtrepublik Nowgorod (eine Wiege des alten Russland), die von Iwan III. unterworfen und später von Iwan IV. erobert und ihrer geistigen und wirtschaftlichen Eliten, ihrer Schätze an Gold und Schmuck, beraubt wurde. Nowgorod, das in ständigem Handel mit der deutschen Hanse, den baltischen Ländern und Polen stand, in dem es einen mächtigen Erzbischof (vladyka) und – nach westlichem Muster – eine Volksversammlung (wetsche) gab, die den Fürsten einsetzte und einen gewissen Separatismus mit einem Hang zum Katholizismus im benachbarten Polen-Litauen pflegte.
Herberstein konnte dank seiner Slowenischkenntnisse mit den Russen sprechen. Der Baron notierte die kaum überwindbare Hierarchie zwischen Adel und Untertanen.
Nowgorod, das nach Herberstein, allerdings durch den Moskauer Einfluss („Moskowiter Pest“, von Herberstein später korrigiert) besonders korrumpiert wurde (F. Kämpfer). In den Handelsbräuchen sei es etwa nach der Annexion durch Moskau schlicht um die Einführung des orientalischen Basars gegangen. So herrsche nicht mehr der Geld-Ware-Handel wie bei der Hanse oder im Westen, sondern der Tauschhandel: Ware gegen Ware (Stich und Tausch).
Nowgorod sah Herberstein als Gegenpol zum autokratischen, orthodoxen Moskau. Freilich: Auch unter Moskau blieb Nowgorod eine bedeutende Stadt.
Aus Herbersteins Beschreibungen wird deutlich:
Russland ist eine neue Großmacht im Osten des Kontinents.
Russland ist ein europäisches Land, trotz aller Unterschiede und der mongolischen Einflüsse. Grundgesetze, Herrschaftspraxis und Lebensformen weisen dies aus.
Die Gesellschaft bestimmt eine kaum überwindbare Hierarchie von (land-) adeliger Herrschaft und rechtlosen Untertanen. Ein Bürgertum ist kaum auszumachen.
Moskau steigt zum Zentrum
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