ZUR AUTORIN
ter als Hayat kennenlernen werde, meine syrische Ronja. Das Flüchtlingslager in Majdel Anger ist eines von Hunderten informellen Flüchtlingslagern im Libanon. Informell, das bedeutet, dass es weder von UNHCR noch von einer anderen staatlichen oder nicht staatlichen Organisation geleitet oder verwaltet wird. Die Flüchtlinge müssen sich selbstständig einen Flecken Land suchen und zahlen im Monat zwischen 100 und 150 Dollar Miete an den Grundbesitzer, um dort ihr Zelt aufzuschlagen.
Die nächsten sechs Wochen werde ich in einer kleinen Schule, die von der libanesischen NGO Kayany geleitet wird, unterrichten. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen bin ich für Peace Education zuständig. Viele Kinder mussten in ihrem Leben Gewalt miterleben und sind ihr durch die angespannte Situation in den Lagern oftmals weiter ausgesetzt. Es gibt traumatisierte Männer, die ihre Ehefrauen und Kinder schlagen, Jugendliche, für die Gewalt das einzige Mittel zur Problemlösung darstellt. In unserem Unterricht geht es also auch um Strategien zur friedlichen Konfliktlösung. Aber nicht nur. Als wir das Thema Kinder- und Menschenrechte behandeln, sagt eine meiner Schülerinnen etwas, was mich sehr zum Nachdenken bringt. Als Einstieg in das Thema male ich einen Jungen und ein Mädchen an die Tafel und frage die Kinder nach den Grundbedürfnissen eines Menschen. Es ist bereits spät, und die Kinder beginnen, unruhig zu werden. Da steht die 12-jährige Weam auf und sagt „Träume“. „Wir brauchen Träume zum Leben.“Mir selbst war während meiner Vorbereitung nicht viel mehr als Wasser, Nahrung, Bildung und Frieden eingefallen. Und nun steht dieses Mädchen auf und sagt etwas, was so simpel und unerlässlich zugleich ist. Dank dieses Mädchens habe ich verstanden, was wohl das größte Problem an der Situation der Menschen hier ist.
An meinem ersten Tag an der Schule frage ich die Kinder nach ihren Berufswünschen. Viele erzählen stolz, dass sie einmal Ärzte, Lehrer oder Krankenschwestern werden wollen. Der elfjährige Badr erklärt mir, dass sein Traumberuf Schauspieler sei, denn er liebe es, in eine Rolle zu schlüpfen und für einen Moment die Aufmerksamkeit aller Leute um ihn herum zu genießen. Diese Kinder sind trotz der schwierigen Situation voll von Träumen. Enorme Spannungen. Nach dem Unterricht spaziere ich oft noch eine Weile durch das Camp, spreche mit den Menschen und trinke eine Tasse Tee mit ihnen. Zwar gehen einige der jüngeren Kinder in eine reguläre Schule. Doch spätestens mit dem 14. Lebensjahr ist es damit vorbei. Viele der Mädchen verbringen dann die meiste Zeit zu Hause in ihren Zelten. Es wird nicht gern gesehen, dass sie allein durch die Camps gehen. Ich denke nun an die eigensinnige Hayat, die mit ihren sieben Jahren schon ganz genau weiß, was sie will, und sich auf ihrem Weg von nichts und niemandem beirren lässt. Ich kann sie mir unmöglich eingesperrt in einem Zelt vorstellen. Die Burschen sitzen rauchend im Schatten vor dem einzigen Laden des Camps und versuchen, sich irgend-
Dietrun Schalk
schildert hier ihre Erfahrungen als Helferin in einem libanesischen Flüchtlingslager, wo es weder vom Staat noch den Vereinten Nationen Hilfe gab. Schalk unterrichtete in der Bekaa-Hochebene im Rahmen eines Programms der NGO Kayani, die unter anderem von der Amerikanischen Universität Beirut unterstützt wird. Die 23-Jährige studiert derzeit wieder Rechtswissenschaften und Spanisch an der KarlFranzens-Universität in Graz. Sie hat sich dabei auf internationales Recht und Flüchtlingsrecht spezialisiert. wie die Zeit zu vertreiben. Wenn ich mit den Jugendlichen spreche und ihre Frustration, Langeweile und Hoffnungslosigkeit spüre, dann frage ich mich manchmal, wann sie wohl aufgehört haben, Ärzte oder Lehrer sein zu wollen, und begriffen haben, in welcher aussichtslosen Situation sie sich befinden.
„Die Spannungen hier im Camp sind enorm“, erklärt mir ein Mitarbeiter von Kayany, der aus Angst vor dem syrischen Regime darum bittet, seinen Namen nicht zu nennen. Er kam selbst als syrischer Flüchtling in den Libanon. Davor hatte er im Wirtschaftsministerium in Damaskus gearbeitet. Außerdem erzählt er, dass die Flüchtlinge ohne eine Arbeitsgenehmigung gezwungen seien, jeden erdenklichen Job anzunehmen, den sie bekommen können. Für rund drei Dollar pro Tag würden sie auf Baustellen oder auf dem Feld arbeiten. Aber trotz aller finanziellen Probleme sei die Perspektivlosigkeit das größere Problem. „Die Jugendlichen verstehen irgendwann, dass sie keine Zukunft haben.“Laut UNHCR besucht fast die Hälfte der syrischen Kinder keine Schule. Eine alte Frau im Camp hat mich einmal gefragt, wer denn ihr Land nach dem Krieg wieder aufbauen solle, wenn diese Kinder nicht einmal ihren Namen schreiben können.
Es ist ein täglicher Kampf um das Allernötigste. Und während die Eltern mit allen Mitteln versuchen, genug Geld für etwas Reis, Gemüse und Obst zu verdienen, prägen Kinder das Straßenbild des Flüchtlingslagers. Barfuß spielen sie in den staubigen Straßen von Majdel Anger. Mit Hayat auf dem Schoß beobachte ich sie. Es sind Kinder, für die inmitten all dieser Probleme viel zu wenig Zeit, Aufmerksamkeit oder Zuneigung bleibt und die schon früh lernen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Mitunter wirken sie auf mich wie kleine Erwachsene. Erhobenen Hauptes spazieren sie wie große Herren durch das Lager, das nun ihr zu Hause ist.
Beiruts Reiche bummeln mit Gucci-Taschen, Flüchtlinge durchstöbern den Müll.
Der Anruf. Nachdem ich diese Kinder sechs Wochen lang begleitet habe, ihre Entwicklung in dieser Zeit beobachten konnte, fällt es mir unglaublich schwer, wieder zu gehen. Es fällt mir schwer, weil ich sie ins Herz geschlossen habe. Aber vor allem fällt es mir schwer, weil ich gesehen habe, wozu diese Kinder fähig sind, und trotzdem weiß, dass sie nie eine echte Chance im Leben bekommen werden. Ich fühle mich auf eine seltsame Weise schuldig, als ich mit meinem österreichischen Reisepass in der Hand meinen Rückflug nach Europa antrete. In ein paar Wochen werden meine Vorlesungen an der Universität beginnen. Bald werde ich wieder auf dem Balkon meiner Wohnung in Graz sitzen, die Aussicht auf den kleinen Park gegenüber genießen.
Bevor wir abheben, läutet mein libanesisches Handy. Es ist Mohammed. Er möchte sich verabschieden. Und außerdem gebe es gute Neuigkeiten. UNHCR habe sich endlich bei ihm gemeldet, mit etwas Glück werde er in ein Resettlement-Programm aufgenommen. Er könne also bald nach Europa oder Nordamerika umziehen. Ich spüre etwas ganz Neues in seiner Stimme. Ich glaube, es ist Hoffnung. „Wir werden uns bald wiedersehen. Inshallah. So Gott will.“Ich lehne mich zurück, das Summen der Motoren setzt ein. Wir heben ab.