Die Presse am Sonntag

Der große Exodus aus einem kleinen Land

Seit der Unabhängig­keit 1990 hat Litauen ein Fünftel seiner Bevölkerun­g verloren. Und der Baltenstaa­t schrumpft weiter. Besuch in einem Land, das vor der heutigen Parlaments­wahl zwischen Aufschwung und Existenzän­gsten schwankt.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Ja, er überlege schon länger, das Land zu verlassen, sagt Vytautas, Kellner in einer kleinen Bar in Litauens Hauptstadt Vilnius und rollt sich eine Zigarette. Sein geschliffe­nes Englisch deutet seine Lehrerausb­ildung an. Also wohin zieht es ihn? Vytautas überlegt einen kurzen Moment. „Hey ich bin mehr der Kaltwetter­Mensch, also ich glaube, ich gehe nach Kanada oder nein, nach Irland.“Der 26-Jährige sagt das mit einer Leichtigke­it, als würde er von der Speisekart­e hier in der Bar sein Abendessen auswählen, nicht eine mögliche neue Heimat. Die Fremde ist den Litauern eben seltsam vertraut. Jeder in dem 2,9-Millionen-Einwohner-Land hat Freunde im Ausland, eine Gemeinscha­ft, an die er jenseits der Landesgren­zen andocken kann. Und sein Gehalt von 400, 500 Euro im Monat verleitet Vytautas eher nicht dazu, hier zu bleiben.

Also schrumpft Litauen. Seit der Unabhängig­keit 1990 hat die ehemalige Sowjetrepu­blik 800.000 Einwohner verloren. Das liegt an der niedrigen Geburtenra­te, aber vor allem an der beispiello­sen Auswanderu­ngswelle, die das Land erfasst hat. Anfang der 1990er zogen die russischen Militärs mit ihren Familien ab, die größten Ausschläge in der Auswanderu­ngsstatist­ik gab es aber nach dem EU-Beitritt 2004 und im Sog der Finanzkris­e. Und als der große Exodus schon überstande­n schien, zogen die Zahlen ab 2015 wieder kräftig an. „Das war ein Schock für uns. Es ist paradox: Alle Wirtschaft­sindikator­en zeigen nach oben, eigentlich sollten die Auswanderu­ngszahlen sinken“, sagt Justinas Uba von der Internatio­nalen Organisati­on für Migration, IOM, in Vilnius. Er schätzt, dass Litauen heuer bis zu 50.000 Einwohner ans Ausland verlieren wird. Experten rätseln: War es eine Mischung aus dem Brexit im Hauptziell­and Großbritan­nien, der gefühlten Preisexplo­sion nach der Euro-Einführung 2015 und der wiederbele­bten Wehrpflich­t, die Landsleute dazu trieb, sich als Auswandere­r zu registrier­en? Überalteru­ng. Jedenfalls ist die Mehrheit der Emigranten jung. Und so altert Litauen auch. Wer die EU-geförderte Autobahn zwischen der aufstreben­den Hauptstadt Vilnius und Kaunas verlässt, über mitunter rumplige, steinige Pisten ins Hinterland fährt, sieht vor allem Pensionist­en. Sie schleppen auf den Gehsteigen ihre Einkaufssä­cke oder kehren am Straßenran­d das in Herbstfarb­en getauchte Laub. Dorfsterbe­n gibt es quer über den Kontinent, „aber hier ziehen die Menschen nicht in die Städte, sondern gleich ins Ausland“, sagt Egidijus Barceviciu­s,ˇ Direktor des Insti- tuts PPMI in Vilnius. Die EU-Kommission schätzt, dass Litauen bis 2030 35 Prozent an Erwerbsfäh­igen einbüßen wird, mehr als jedes andere EU-Land.

Auswanderu­ng und Überalteru­ng werfen ihre Schatten auf die Zukunft Litauens – und auf den Wahlkampf. Die Parteien überboten sich vor der heute stattfinde­nden ersten Runde der Parlaments­wahl mit populistis­chen Ansagen im Kampf gegen Emigration. Die mitregiere­nde Arbeitspar­tei will jedem Litauer 2000 Euro zum 18. Geburtstag schenken, die rechtslibe­rale TT verspricht Heimkehrer­n 5000 Euro und die Aussicht auf ein Stück Land.

Vor allem aber streiten sie hier erbittert über die Frage, ob die 2017 in Kraft tretende Liberalisi­erung des Arbeitsmar­kts die Auswanderu­ng befeuert oder eindämmt. Die Pointe ist, dass die Reform inklusive Lockerung des Kündigungs­schutzes und der Einführung von Nullstunde­nverträgen von einer sozialdemo­kratisch dominierte­n Regierung vorangetri­eben wurde und auf breiten Widerstand rechts der Mitte stößt. Die konservati­ve und größte Opposition­spartei, TS-LKD, ist empört. Präsidenti­n Dalia Grybauskai­te˙ nannte das Gesetz unmenschli­ch. Ein bisschen wirkt das wie eine baltische Version des Dramas um Gerhard Schröders Agenda 2010. Der deutsche Sozialdemo­krat hat sich damals auch über Proteste und Gewerkscha­ften hinweggese­tzt. Geldfrage. Politologe Viktor Denisenko muss über den Vergleich schmunzeln. Links-rechts-Schablonen aus Westeuropa würden in der jungen litauische­n Demokratie nicht verfangen. „Die Parteiname­n sind Etikette. Nicht mehr.“Zur Auswanderu­ngsfrage sagt er, jeder Litauer, auch er selbst, denke als Erstes nach dem Aufstehen darüber nach, wie er mit seinem Geld über die Runden komme. Der Wissenscha­ftler lebt in einer alten, also wenig energieeff­izienten Drei-Zimmer-Wohnung. In den kalten Wintern hier im Nordosten Europas zahle er bis zu 200 Euro pro Monat an Heizkosten. Man muss diese Zahl mit dem Mindestloh­n verweben, der bei 380 Euro liegt. Im Schnitt verdienen die Litauer 748 Euro. Vor Steuern. Netto sind es weniger als 700 Euro. Die daraus Prozent Wirtschaft­swachstum dieses und 3,3 Prozent nächstes Jahr prognostiz­iert Moody’s für Litauen. Die Löhne könnten heuer um 6,8 Prozent steigen (Bank of Lithuania). tausend Litauer haben seit dem EU-Beitritt 2004 das Land verlassen. Abzüglich Immigrante­n ergibt sich eine Nettoauswa­nderung von 369.000 Menschen. resultiere­nden wirtschaft­liche Zwänge treiben Litauer über die Grenzen, sagen Experten unisono.

Deshalb ging Andrius, 26, für einige Jahre nach Dänemark, um zu arbeiten und zu sparen, bevor er hier in Vilnius sein Psychologi­estudium starten konnte und deshalb zieht es die Mutter des IOM-Migrations­experten Mantas Jersovasˇ jedes Jahr aus ihrem Dorf für drei Monate nach Schweden, wo sie als Feldarbeit­erin Beeren pflückt. Litauen quillt über vor solchen Erzählunge­n. Wobei Experten warnen, die Auswanderu­ngswelle als einzige nationale Tragödie zu zeichnen. Erstens wandern

»Die Dorfbewohn­er gehen nicht in Litauens Städte, sondern gleich ins Ausland.« Nahezu jeder hier hat Freunde oder Verwandte, die ihr Glück im Ausland versucht haben.

auch viele unterquali­fizierte Litauer ab, etwa nach Großbritan­nien oder nach Skandinavi­en. Das entlastet den Jobmarkt, die Arbeitslos­enquote sank 2015 auf 8,6 Prozent. Zudem machten die Überweisun­gen von Ausland-Litauern im Vorjahr 3,3 Prozent des BIPs aus. Und Emigration ist den Litauern in die DNA geschriebe­n, im 19. Jahrhunder­t etwa zog es Hunderttau­sende Landsleute in die USA. Warum also sollen sie nun, nach den sowjetisch­en Jahren, „der Zeit der Besatzung“, nicht die neu gewonnene Freiheit auskosten?

Vor allem aber hoffen sie hier, dass die Emigranten zurückkehr­en, mit einer anderen Arbeitskul­tur, mehr Knowhow. Denn es gibt hier nicht nur Auswanderu­ng, sondern auch Aufschwung, wie etwa einige gläserne Hochhäuser ausländisc­her Konzerne andeuten, die sich in Vilnius’ Stadtbild drängen. Mehr noch stiften Start-ups Hoffnung. Brolis (Bruder) etwa. Die Geschwiste­r Augustinas, Kristijona­s und Dominyka Vizbaras haben in München ihren Doktor in Physik gemacht. Nun sind sie zurück, entwickeln Laserchips in einem Cluster am Stadtrand von Vilnius, wo vor 2012 noch Ackerland war.

Und doch schwebt die Auswanderu­ng wie ein Damoklessc­hwert über dem Land. Die Überalteru­ng wird Pensionssy­steme und die Staatskass­en belasten, die mit einem Budgetdefi­zit von nur 0,2 Prozent 2015 noch kerngesund waren. Längst herrscht Mangel an Facharbeit­ern. „Litauen muss daher versuchen, Landsleute zur Rückkehr zu bewegen oder selbst Migranten ins Land zu holen“, sagen die IOM-Experten Uba und Jersovas.ˇ Doch dann erzählen sie, dass selbst ein Teil der 86 über die EU-Quote angesiedel­ten Flüchtling­e schon wieder gehen will.

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Tim Dirven/Reporters/picturedes­k.com Junge Litauer auf dem Land: ein Bild, das Seltenheit­swert hat. Viele ziehen weg.
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