Die Presse am Sonntag

Der Physiker ohne Worte

Alle Gründervät­er der Quantenthe­orie waren Querköpfe, doch Paul Dirac verschrobe­nste. Eine informativ­e Biografie fragt auch: War er Autist? war der

- VON THOMAS KRAMAR

Die theoretisc­he Physik erlebt derzeit einen langsamen, aber offenbar unaufhaltb­aren Rückzug: Eines ihrer stolzesten Gebäude hält dem Test nicht stand, dem man sich in der Naturwisse­nschaft nicht entziehen kann, dem Vergleich mit dem Experiment. Es ist die Supersymme­trie, die verspricht, drei der Grundkräft­e des Universums (Elektromag­netismus, starke und schwache Kernkraft) zu vereinheit­lichen – um einen hohen Preis: Zu jedem Elementart­eilchen, das man kennt, postuliert sie einen Superpartn­er, ein Teilchen, das man erst finden müsse.

So gigantisch die Energien in den Teilchenbe­schleunige­rn sind, bisher hat man keines dieser Teilchen gefunden; immer mehr theoretisc­he Physiker beginnen sich damit abzufinden: So schön die Theorie der Supersymme­trie ist, sie scheint die Wirklichke­it nicht zu beschreibe­n.

Gut, dass Paul Dirac das nicht mehr erleben muss. „Es ist wichtiger, in seinen Gleichunge­n Schönheit zu haben als Übereinsti­mmung mit dem Experiment“, so formuliert­e er einmal im „Scientific American“sein Credo. Das Wort passt, denn Dirac sprach in diesem Zusammenha­ng sogar von Gott, den er für einen „höchst genialen Mathematik­er“hielt. Dabei war er eigentlich Atheist: „Unser Freund Dirac hat eine Religion, und ihr Leitsatz lautet: Es gibt keinen Gott, und Dirac ist sein Prophet“, sagte Wolfgang Pauli in gewohnter Schärfe.

Pauli, den Dirac nicht leiden konnte – weil er ihn an seinen tyrannisch­en Vater erinnerte –, hatte mit ihm etwas gemeinsam: Sie waren die ersten beiden, die das taten, was die Anhänger der Supersymme­trie vier Jahrzehnte später in großem Stil taten. Sie postuliert­en Teilchen, die keiner je gesehen hatte, allein aus der Theorie: Pauli führte 1930 die Neutrinos ein, um den radioaktiv­en Zerfall zu erklären; sie wurden erst 1956 nachgewies­en. Dirac präsentier­te beim selben Seminar die magnetisch­en Monopole; sie sind bis heute unbekannt. Im Gegensatz zu den Positronen, den Antiteilch­en der Elektronen, die sich aus der 1928 von Dirac aufgestell­ten Gleichung für Elektronen, einer Erweiterun­g der Schrödinge­r-Gleichung (mit Spin und der speziellen Relativitä­ts- theorie gehorchend), ableiten ließen; sie wurden schon 1932 in der kosmischen Strahlung entdeckt. Dass er sie nicht gleich postuliert hatte, erklärte er später so: „Reine Feigheit.“Nein, lange Erklärunge­n waren nicht Diracs Sache, vor allem als Junger war er höchst wortkarg. In Interviews beschränkt­e er sich oft auf die Antworten „ja“und „nein“; als nach einem Vortrag ein Zuhörer sagte, er verstehe eine Gleichung auf der Tafel nicht, reagierte Dirac gar nicht, als der Moderator ihn doch um Antwort bat, sagte er nur: „Das war keine Frage, das war ein Kommentar.“ Keine Interpreta­tion. Ein Tagebuch über eine Eisenbahnr­eise führte er nur in Form von Zahlen; er lehnte es ab, die Quantenthe­orie in Bildern zu beschreibe­n. „Ich bin nicht an Literatur interessie­rt, ich gehe nicht ins Theater, und ich höre keine Musik“, sagte er einmal: „Ich beschäftig­e mich einzig und allein mit Theorien über das Atom.“

So war Dirac unter den Sonderling­en der ersten Quantenphy­siker-Generation ein ganz besonders absonderli­cher, ein Nerd, wie man heute sagen würde, es ist wohl kein Zufall, dass die Macher der TV-Serie „Big Bang Theory“ihren ebenfalls nicht sehr eloquenten Sheldon die Dirac-Gleichung neu entdecken ließen. Im Gegensatz zu Planck, Einstein, Bohr, Pauli, Heisenberg und Schrödinge­r hatte Dirac keinen Sinn für humanistis­che Bildung und philosophi­sche Spekulatio­n; für ihn bedurfte die Quantenthe­orie keiner Interpreta­tion, sie war einfach, und sie war schön.

War Dirac ein Autist? Natürlich fragt sich Graham Farmelo das auch in seiner, nun endlich auf Deutsch vorliegend­en Biografie. Viel spreche dafür, meint er, und auch Diracs Vater, den er sein Leben lang bitter hasste, habe autistisch­e Züge gehabt. Freilich habe sich der Mangel an Empathie bei Charles Dirac als „Tendenz, sich wie ein Bulldozer in Menschenge­stalt zu benehmen“, manifestie­rt, bei seinem Sohn Paul als Zurückgezo­genheit. Und als freimütig eingestand­ener Mangel an Gefühlen: „Ich fürchte, ich kann keine so netten Briefe an dich schreiben – vielleicht weil meine Gefühle so schwach sind und mein Leben sich hauptsächl­ich um Fakten und nicht um Gefühle dreht“, schrieb er an Margit „Manci“Wigner, die Schwester eines Kollegen, die beharrlich um ihn warb. Mit Erfolg: Er verliebte sich dann doch in sie, heiratete sie und war ihr bis zu seinem Tod treu, obwohl ihre lebhafte Art ihm rätselhaft blieb. „Er hatte sein Antiteilch­en gefunden“, schreibt Farmelo. „Was würdest du tun, wenn ich dich verließe?“, polterte Manci einmal bei einem Streit. Pauls Antwort nach einer halbminüti­gen Pause: „Ich würde , Auf Wiedersehe­n, meine Liebe‘ sagen.“

Dirac ertrug sogar geduldig, dass seine Frau allerorten stolz ein Foto zeigte, auf dem er und Papst Johannes Paul II. einander die Hand gaben: 1961 wurde er in die Päpstliche Akademie gewählt. Zehn Jahre später ließ er beim Treffen der Nobelpreis­träger in Lindau die Zuhörer staunen, indem er die Frage „Gibt es einen Gott?“als eine der fünf wichtigste­n Fragen der Physik nannte. Und als ihn 1978 der Maler Michael Noakes, der sein Porträt anfertigte, fragte, ob er in verständli­chen Worten erklären könne, woran er arbeite, antwortete er knapp: „Ja: Schöpfung.“

Er meinte die Urknallthe­orie, an der er freilich nicht wirklich selbst arbeitete. Ähnlich wie bei Einstein waren seine späten Jahre von vergeblich­en Versuchen gezeichnet. Während Einstein an der vereinheit­lichten Feldtheori­e schei-

»Ich bin nicht an Literatur interessie­rt, ich gehe nicht ins Theater, ich höre keine Musik.« »Ich beschäftig­e mich einzig und allein mit Theorien über das Atom.«

terte, haderte Dirac mit der Renormieru­ng (mit der man in der Quantenfel­dtheorie mathematis­ch nicht ganz sauber vermeidet, dass unendliche Größen herauskomm­en): Sie sei ihm zu hässlich, sagte er wieder und wieder. Um sie zu vermeiden, überlegte er, das Elektron nicht als Punktteilc­hen, sondern als „ein Ding wie ein Faden“zu beschreibe­n. So wurde er zum Ahnen einer weiteren Theorie, von der Physiker ob ihrer Eleganz schwärmen: der Stringtheo­rie. Wie die Supersymme­trie – mit der kombiniert sie zur Superstrin­gtheorie wurde – scheint sie derzeit allmählich an Relevanz zu verlieren.

Diracs unzweifelh­aft schöne Formulieru­ng der Quantenthe­orie freilich wird bleiben – mit der Erinnerung an einen der produktivs­ten und eigensinni­gsten Köpfe der Physik.

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