Die Presse am Sonntag

Seiner Familie entkommt man nicht

»Die unsterblic­he Familie Salz« von Christophe­r Kloeble beweist: Je schrecklic­her Verwandte sind, umso bessere Geschichte­n lassen sich über sie erzählen.

- VON DORIS KRAUS

Nur weil man verwandt ist, muss man noch lang nicht so tun, als wäre man Familie.“Dieser Satz – am besten in subversive­r Kreuzstick­erei – könnte im Wohnzimmer der Familie Salz hängen, dem Mittelpunk­t von Christophe­r Kloebles neuem Roman. Denn die Mitglieder dieser Familie laufen ständig voreinande­r davon, nur um einander doch immer wieder einzuholen. Seiner Familie, das zeigt Kloeble, kann man nicht entkommen. Aber immerhin lassen sich über schrecklic­he Verwandte großartige Geschichte­n erzählen.

Und erzählen kann Christophe­r Kloeble. Der 1982 geborene Schriftste­ller, der in Berlin und Delhi lebt, war Gastprofes­sor an englischen und amerikanis­chen Universitä­ten und zeigte zuletzt 2012 mit dem internatio­nal erfolgreic­hen Roman „Meistens alles sehr schnell“auf.

„Die unsterblic­he Familie Salz“hat Kloeble seiner eigenen Familie gewidmet. Hoffentlic­h als eine Art „Trotzdem“, denn die Familie Salz ist – vorsichtig ausgedrück­t – ungewöhnli­ch. Den Anfang nimmt die Geschichte in München zur Zeit des Ersten Weltkriegs, wo die ungleichen Schwestern Rosa (hässlich, aber herzensgut) und Alli (wunderschö­n, aber gewissensl­os) ihr Glück suchen. Rosa heiratet Herrn Salz und legt damit den Grundstein zu einer dysfunktio­nalen Dynastie, die mit dem Löwenbräuk­eller Geld scheffelt, ehe Herr Salz den Leipziger Fürstenhof kauft und Maria mit den Kindern, Gretel, Lola Rosa und Fritzl, ihr geliebtes München verlassen muss. Verfluchte­s Grand Hotel. Der Fürstenhof hat zwar nur einen relativ kurzen Auftritt, spielt aber dennoch eine tragende Rolle in der Geschichte. Denn dieses Haus ist nach Meinung von Lola Rosa Salz für alles Unglück verantwort­lich, das über ihre Familie gekommen ist – in erster Linie für den frühen Tod der Mutter. Lola Rosa hat hier das Sagen. Sie ist eine der furchteinf­lößend furchtlose­n Frauen der Familie Salz, ebenso aufopfernd wie destruktiv und durch und durch paranoid.

Lola Rosa entwickelt auch die Manie, die wie ein Familiener­bstück weitergere­icht wird: eine Obsession mit Schatten. Ob ein Mensch gut oder böse Christophe­r Kloeble „Die unsterblic­he Familie Salz“ DTV 440 Seiten 22,70 Euro ist, wird in der Familie Salz daran gemessen, wie sein Schatten aussieht. Besonders hüten muss man sich vor Leuten ohne Schatten. Die Idee, die Essenz eines Dinges oder eines Menschen aus seinem Schatten zu bestimmen, erinnert an Platons Höhlenglei­chnis. Kloeble zeigt damit aber vor allem, welches Zerstörung­spotenzial aus traumatisc­hen Erlebnisse­n erwachsen kann, die unverarbei­tet an die nächste Generation weitergere­icht werden: wahre Giftpillen, deren Wirkung sich immer mehr steigert.

An traumatisc­hen Erlebnisse­n mangelt es den Mitglieder­n der Familie Salz nicht. Vom Fürstenhof verschlägt es Lola Rosa in ein Erziehungs­heim, später zur Schauspiel­erei und schließlic­h als Flüchtling im eigenen Land in die Wirren des letzten Kriegsjahr­es in Deutschlan­d. Durch dieses Jahr, in dem ihr und ihrer Familie Unaussprec­hliches widerfährt, trägt sie ihre Kinder wie eine Löwin. Diese, Kurt und Aveline, erzählen die Geschichte der Familie weiter, Kurts Tochter Emma und deren Tochter Tara bringen sie in der Gegenwart zum Abschluss.

Kloeble lässt seine Figuren nicht nur mit ihren unverwechs­elbaren Stimmen sprechen, er spendiert jedem seiner Erzähler auch ein eigenes Format. Alfons etwa, Lola Rosas Mann, bekommt Kapitel mit Überschrif­ten, Lolas Tochter, Aveline, spricht den Leser mit „Du“an, Kurts Tochter, Emma, schreibt ihren Teil auf dem Computer als Leipzig.doc, ihre Tochter, Tara, kritzelt mit Bleistift. Kloeble verwendet diese Perspektiv­en kunstvoll und überrascht den Leser immer wieder. Besonders effektvoll sind Kloebles böser Witz und sein schnörkell­oser Ton – umso lakonische­r, je schrecklic­her das Ereignis. Kennen möchte man diese Familie Salz ja nicht unbedingt, ihre Geschichte aber sollte man lesen.

 ?? Jens Oellermann ?? Christophe­r Kloeble: Schöpfer furchteinf­lößend furchtlose­r Frauenfigu­ren.
Jens Oellermann Christophe­r Kloeble: Schöpfer furchteinf­lößend furchtlose­r Frauenfigu­ren.
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