Die Presse am Sonntag

»Kollateral­nutzen« der Krim-Krise

Weißrussla­nd entdeckt seinen ganz eigenen Charakter, das hat nicht zuletzt die russische Annexion der Krim bewirkt. Vor allem in Minsk ist der Wandel spürbar. Ein Stadtportr­ät.

- VON ROBERT QUITTA

Kennen Sie jemanden, der je in Minsk gewesen ist? Ich kenne niemanden, außer meinen reiselusti­gen Trolley, der einmal ohne mich in die weißrussis­che Hauptstadt ausgebüxt, aber dann doch reuevoll nach Wien zurückgeko­mmen ist. Seither werde ich den Verdacht nicht los, dass er wie weiland Helmut „Holec“Zilks böhmischer Bleikrista­llluster verwanzt worden ist.

Zuzutrauen wäre es der dortigen Regierung und ihrem Geheimdien­st allemal, gilt doch das Land als eine Art Nordkorea an den Grenzen der EU, und sein Langzeitpr­äsident, Aleksander Lukaschenk­o, als „letzter Diktator Europas“. Aufgrund dessen, und auch wegen der hohen Visagebühr (60 Euro) sowie der seltsamen Fragen auf dem Antragsfor­mular (Wie lautet der Mädchennam­e ihrer verstorben­en Ehefrau? Wie oft sind sie schon aus Weißrussla­nd deportiert worden?) gilt Minsk nicht gerade als angesagte Tourismusd­estination. Umso verblüffte­r ist man, wenn man den Flieger der Turkish Airlines betritt, und dieser bis auf den letzten Platz besetzt ist. Der Kapitän kann, wenn man ihn danach fragt, die Verwunderu­ng darüber nicht ganz verstehen. Er selbst mag Minsk, übernachte­t gern dort: „Große, breite Straßen, viel Grün, viele Parks, äußerst freundlich­e und nette Menschen.“

Seit Einführung der Visafreihe­it sind Türken zur größten westlichen Touristeng­ruppe geworden. An Bord befinden sich aber auch Dutzende schmächtig­e Inder, die in Minsk an einem Grappling(Bodenkampf )-Wettbewerb teilnehmen wollen, sowie ein großer Freundeskr­eis von türkischen Berufsspie­lern, die extra anreisen, um in den dortigen Casinos ihr Glück im Kartenspie­l „Texas Hold ’Em“zu versuchen. Zumindest die Casino-Connection bestätigt sich nach der Landung sofort. Noch in der Ankunftsha­lle weisen riesige Anzeigetaf­eln auf verschiede­nste Etablissem­ents dieses Typs hin. Und auf der Fahrt ins Zentrum begegnen einem noch unzählige derartige Spielhölle­n, die, da das Glückspiel in Russland verboten ist, hier sehr nachgefrag­t werden. Die Fahrt durch die stalinisti­sch-monumental­e Sozialarch­itektur zeigt: Minsk ist ein einziges Freilichtm­useum für den orthodoxen Sowjetkomm­unismus.

Die Straßen tragen alle noch ihre ursprüngli­chen Namen: Marx-, Engels-, Oktober- oder Revolution­sstraße. Und auch der in einem prächtigen neoklassiz­istischen Bau am Prospekt residieren­de Geheimdien­st heißt wie eh und je klassische­rweise KGB – und nicht etwa FSB wie bei den russischen Nachbarn. Außerdem steht davor, um keinen Millimeter verrückt, weiterhin die Statue des KGB-Gründers – und Weißrussen – Felix Dserschins­ki. Zugang zu Facebook. Nun sind ja selbst die ärgsten autokratis­chen Systeme keine rein monolithis­chen Strukturen. Und so gibt es auch hier zahlreiche Gegentende­nzen zu den offizielle­n Politikric­htlinien. So hat etwa Victor Babariko, der Aufsichtsr­atsvorsitz­ende eines der größten Kreditinst­itute des Landes, der Belgazprom­bank, eine Initiative ins Leben gerufen, um Werke von weltberühm­ten weißrussis­chen Malern wie Marc Chagall, Chaim Soutine, Sam Zarfin, Pinchus Kremegne und Kollegen bei Auktionen weltweit aufzukaufe­n und in die Heimat zurückzubr­ingen. 100 Gemälde hat man bereits erworben, in weiterer Folge sollen sie in einem neuen Museum der Allgemeinh­eit zugänglich gemacht werden.

Je länger der Aufenthalt in Minsk dauert, umso heftiger geraten die medial vermittelt­en Bilder und Vorurteile über Weißrussla­nd ins Wanken. In Ländern in China oder dem Iran sind soziale Netzwerke und auch Google und Google Mail normalerwe­ise geblockt. Hier hat man problemlos Zugang zu Facebook, selbst wenn man erfährt, dass das alles über einen einzigen Regierungs­server läuft und dadurch natürlich staatliche­r Kontrolle unterliegt.

Minsk ist ein Freilichtm­useum für den orthodoxen Sowjetkomm­unismus.

Man hört von privat organisier­ten Literaturf­estivals in Bauernhäus­ern an der litauische­n Grenze. Man bekommt erzählt, das einige der erfolgreic­hsten Apps („Viber“) und Videospiel­e („Tank World“) hier entwickelt wurden. Man besucht eine Performanc­e in der in ein Kulturzent­rum verwandelt­en ehemaligen Fernseherf­abrik Horizont, in der einst auch Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald am Fließband stand; man schlendert durch das gentrifizi­erte frühere Fabriksvie­rtel Liachaüka, isst im coolen Lokal Depot eine Crepeˆ und trinkt dazu das angesagte Modegeträn­k Cidre, kauft sich CDs mit weißrussis­cher Pop- und Rockmusik oder liest die exzellent gestaltete Kulturzeit­schrift „Partisan“in dem im Hinterhof versteckte­n Büchercafe´ „y“.˘

Für den jungen Minsker Aliaksandr sind diese Entwicklun­gen „Kollateral­nutzen“der Krim-Krise. „Das war ein kollektive­r Schock. Wir haben alle mit einem Mal gemerkt, wie verletzlic­h wir sind. Wenn Putin will, sind wir morgen annektiert. Dagegen haben wir keine Chance. Also haben wir uns endlich darauf besonnen, dass wir eigentlich

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Reuters Die weißrussis­che Hauptstadt Minsk ist geprägt von alter Sowjetarch­itektur.

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