»Kollateralnutzen« der Krim-Krise
Weißrussland entdeckt seinen ganz eigenen Charakter, das hat nicht zuletzt die russische Annexion der Krim bewirkt. Vor allem in Minsk ist der Wandel spürbar. Ein Stadtporträt.
Kennen Sie jemanden, der je in Minsk gewesen ist? Ich kenne niemanden, außer meinen reiselustigen Trolley, der einmal ohne mich in die weißrussische Hauptstadt ausgebüxt, aber dann doch reuevoll nach Wien zurückgekommen ist. Seither werde ich den Verdacht nicht los, dass er wie weiland Helmut „Holec“Zilks böhmischer Bleikristallluster verwanzt worden ist.
Zuzutrauen wäre es der dortigen Regierung und ihrem Geheimdienst allemal, gilt doch das Land als eine Art Nordkorea an den Grenzen der EU, und sein Langzeitpräsident, Aleksander Lukaschenko, als „letzter Diktator Europas“. Aufgrund dessen, und auch wegen der hohen Visagebühr (60 Euro) sowie der seltsamen Fragen auf dem Antragsformular (Wie lautet der Mädchenname ihrer verstorbenen Ehefrau? Wie oft sind sie schon aus Weißrussland deportiert worden?) gilt Minsk nicht gerade als angesagte Tourismusdestination. Umso verblüffter ist man, wenn man den Flieger der Turkish Airlines betritt, und dieser bis auf den letzten Platz besetzt ist. Der Kapitän kann, wenn man ihn danach fragt, die Verwunderung darüber nicht ganz verstehen. Er selbst mag Minsk, übernachtet gern dort: „Große, breite Straßen, viel Grün, viele Parks, äußerst freundliche und nette Menschen.“
Seit Einführung der Visafreiheit sind Türken zur größten westlichen Touristengruppe geworden. An Bord befinden sich aber auch Dutzende schmächtige Inder, die in Minsk an einem Grappling(Bodenkampf )-Wettbewerb teilnehmen wollen, sowie ein großer Freundeskreis von türkischen Berufsspielern, die extra anreisen, um in den dortigen Casinos ihr Glück im Kartenspiel „Texas Hold ’Em“zu versuchen. Zumindest die Casino-Connection bestätigt sich nach der Landung sofort. Noch in der Ankunftshalle weisen riesige Anzeigetafeln auf verschiedenste Etablissements dieses Typs hin. Und auf der Fahrt ins Zentrum begegnen einem noch unzählige derartige Spielhöllen, die, da das Glückspiel in Russland verboten ist, hier sehr nachgefragt werden. Die Fahrt durch die stalinistisch-monumentale Sozialarchitektur zeigt: Minsk ist ein einziges Freilichtmuseum für den orthodoxen Sowjetkommunismus.
Die Straßen tragen alle noch ihre ursprünglichen Namen: Marx-, Engels-, Oktober- oder Revolutionsstraße. Und auch der in einem prächtigen neoklassizistischen Bau am Prospekt residierende Geheimdienst heißt wie eh und je klassischerweise KGB – und nicht etwa FSB wie bei den russischen Nachbarn. Außerdem steht davor, um keinen Millimeter verrückt, weiterhin die Statue des KGB-Gründers – und Weißrussen – Felix Dserschinski. Zugang zu Facebook. Nun sind ja selbst die ärgsten autokratischen Systeme keine rein monolithischen Strukturen. Und so gibt es auch hier zahlreiche Gegentendenzen zu den offiziellen Politikrichtlinien. So hat etwa Victor Babariko, der Aufsichtsratsvorsitzende eines der größten Kreditinstitute des Landes, der Belgazprombank, eine Initiative ins Leben gerufen, um Werke von weltberühmten weißrussischen Malern wie Marc Chagall, Chaim Soutine, Sam Zarfin, Pinchus Kremegne und Kollegen bei Auktionen weltweit aufzukaufen und in die Heimat zurückzubringen. 100 Gemälde hat man bereits erworben, in weiterer Folge sollen sie in einem neuen Museum der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden.
Je länger der Aufenthalt in Minsk dauert, umso heftiger geraten die medial vermittelten Bilder und Vorurteile über Weißrussland ins Wanken. In Ländern in China oder dem Iran sind soziale Netzwerke und auch Google und Google Mail normalerweise geblockt. Hier hat man problemlos Zugang zu Facebook, selbst wenn man erfährt, dass das alles über einen einzigen Regierungsserver läuft und dadurch natürlich staatlicher Kontrolle unterliegt.
Minsk ist ein Freilichtmuseum für den orthodoxen Sowjetkommunismus.
Man hört von privat organisierten Literaturfestivals in Bauernhäusern an der litauischen Grenze. Man bekommt erzählt, das einige der erfolgreichsten Apps („Viber“) und Videospiele („Tank World“) hier entwickelt wurden. Man besucht eine Performance in der in ein Kulturzentrum verwandelten ehemaligen Fernseherfabrik Horizont, in der einst auch Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald am Fließband stand; man schlendert durch das gentrifizierte frühere Fabriksviertel Liachaüka, isst im coolen Lokal Depot eine Crepeˆ und trinkt dazu das angesagte Modegetränk Cidre, kauft sich CDs mit weißrussischer Pop- und Rockmusik oder liest die exzellent gestaltete Kulturzeitschrift „Partisan“in dem im Hinterhof versteckten Büchercafe´ „y“.˘
Für den jungen Minsker Aliaksandr sind diese Entwicklungen „Kollateralnutzen“der Krim-Krise. „Das war ein kollektiver Schock. Wir haben alle mit einem Mal gemerkt, wie verletzlich wir sind. Wenn Putin will, sind wir morgen annektiert. Dagegen haben wir keine Chance. Also haben wir uns endlich darauf besonnen, dass wir eigentlich