Die Presse am Sonntag

So billig wie heute war Geld noch nie

Von BŻãylon ãis BernŻnke: Die Geschichte des Zinses spiegelt Aufstieg un© FŻll von Kulturen. Sie zeigt Żuch: Zinsen nŻhe null sin© historisch einmŻlig. Ein Ausflug in ferne VergŻngenh­eit, zu Verãoten voller AusnŻhmen un© Konkuãinen Żls PfŻn©.

- VON KARL GAULHOFER

Mit einem stumpfen Holzgriffe­l kratzte der babylonisc­he Schreiber seinen Text in die Tafel aus weichem Ton: „Zwei Sekel Silber hat sich Mas-Schamach, der Sohn von A., geliehen, von der Sonnenprie­sterin AmatSchama­ch, der Tochter von W. Er wird die vom Sonnengott festgelegt­en Zinsen entrichten. Zur Zeit der Ernte zahlt er die Summe und die Zinsen zurück.“

Seit zwischen Euphrat und Tigris um 2700 vor Christus die Keilschrif­t entstand, kann sich die Menschheit an sich selbst erinnern. Doch unsere ältesten Aufzeichnu­ngen sind weder Gebete noch Gedichte, weder Hymnen noch Heldensage­n. Es sind ganz nüchterne Listen, Tabellen – und Kreditvert­räge, geschlosse­n vor Zeugen, mitsamt Pfand und fixiertem Zinssatz.

Also hatte sich Andy Haldane gar nicht so weit aus dem Fenster gelehnt. Vor einem Ausschuss des britischen Parlaments behauptete der Chefökonom der Bank of England vor einigen Jahren kühn, das globale Zinsniveau sei so niedrig wie noch nie zuvor. Das zog ein „kluger Kollege“, wie er später erzählte, in Zweifel: „Woher willst du denn wissen, dass die Zinsen in babylonisc­hen Zeiten nicht niedriger waren?“Haldane nahm die Herausford­erung an. „Mehrere erschöpfte Forschungs­assistente­n später“konnte er sich sicher fühlen: Offenbar waren die durchschni­ttlichen Zinsen in den letzten 5000 Jahren tatsächlic­h noch nie so niedrig wie heute. Seine Erkenntnis­se fasste er in einer Grafik zusammen, die seitdem unter den Analysten von Banken Furore macht (siehe unten). Saat und Kälber. Aber wie Haldane nur bei der Quelle diskret andeutet, sind seine Lorbeeren nicht ganz ehrlich verdient. Natürlich brauchte es schon davor Heerschare­n von Archäologe­n und Archivaren, um die Informatio­nen für die Kurven zusammenzu­tragen. Und zwei so emsige Wirtschaft­shistorike­r wie Sidney Homer und Richard Sylla, um sie zu „A History of Interest Rates“zu kompiliere­n. Das voluminöse Standardwe­rk zeichnet anhand der Entwicklun­g der Zinssätze den Aufstieg und Fall ganzer Zivilisati­onen nach. Es zeigt, wie religiöse Dogmen die ökonomisch­e Entwicklun­g über Jahrhunder­te bremsten. Es streift Geschichte­n von Gewalt und Zwang, von Habgier und List. Aber zwischen den Zeilen erklingt auch ein Loblied auf die Verlässlic­hkeit ehrbarer Kaufleute.

Aller Anfang liegt im Dunkel. Aber eine Vermutung liegt nahe: Wohl schon seit die Menschen Ackerbau und Viehzucht betreiben, vergeben sie Kredite. Ein Bauer leiht einem Verwandten oder Nachbarn Saatgut und bekommt nach der Ernte mehr davon zurück: So funktionie­rt es in einfach strukturie­rten Stammeskul­turen noch heute. Oder ein Rind wird verliehen, das mit seinem Nachwuchs einen natürliche­n Mehrwert abwirft. Die Sumerer verwendete­n dasselbe Wort für „Kalb“und „Zins“. Das lateinisch­e Wort für Geld, „pecunia“, kommt von „pecus“, der Herde. Das italienisc­he „capitale“kommt vom lateinisch­en „caput“für Kopf – die Kopfzahl des Viehbestan­des steht für das Vermögen, im Gegensatz zu den Kälbern als Zinsen. In den babylonisc­hen Städten kam bald das Verleihen von Edelmetall­en hinzu. Man tauschte das eine ins andere. Noch bei Homer verspreche­n Bittstelle­r dem Odysseus: „Wir bezahlen in Bronze und Gold, im Wert von zwölf Ochsen.“

Dem Kredit folgten seine Schattense­iten, von Wucherzins­en bis Zahlungsve­rzug. So finden sich schon im Codex Hammurabi, dem ältesten Gesetzeste­xt der Welt, eine ganze Reihe von Vorschrift­en zu Kreditgesc­häften. Vor allem der maximal erlaubte Jahreszins: ein Drittel des Darlehens bei Korn, ein Fünftel bei Silber. Aber auch schaurige Varianten für Sicherheit­en: Neben Grund und Boden konnte der Schuldner auch sich selbst verpfänden – oder wahlweise Ehefrau, Kinder, Sklaven und Konkubinen. Doch war solch persönlich­e Knechtscha­ft auf drei Jahre beschränkt. Die Assyrer fügten hinzu: Erhält der Kreditor einen Menschen als Pfand, darf er ihn weder misshandel­n noch verkaufen. Immerhin.

Mit solch barbarisch­en Bräuchen räumten erst die Griechen auf. Aber nur unter Druck: Im sechsten Jahrhunder­t vor Christi hatten sich die attischen Pachtbauer­n so schlimm verschulde­t (und häufig ihre ganze Familie verpfändet), dass ihnen von der Ernte nur mehr ein Sechstel blieb. Also drohten sie mit Rebellion. Die Athener riefen den weisen Dichter Solon zu Hilfe. Seine Reformen waren so radikal wie dauerhaft: Nach einem Schuldensc­hnitt befreite er die betroffene­n Sklaven. Zugleich schaffte er alle gesetzlich­en Schranken für den Zinssatz ab. Die Griechen ließen also – sehr liberal gedacht – den Markt entscheide­n. Dabei verteufelt­e Platon den Zins. Auch für Aristotele­s war Geld steril, seine Vermehrung also unnatürlic­h und zu Recht verhasst – womit er im Grunde jeden Gewinn aus kommerziel­len Geschäften ablehnte. Aber der Protest der Philosophe­n verhallte ungehört. Handel und Geldwesen konnten sich entwickeln, die Zinsen sanken auf unter zehn Prozent. 5000 Jahre Zinsen Aus dieser Sicht bedeutete das römische Recht einen Rückschrit­t. Die „Zwölf Tafeln“erlaubten wieder die Versklavun­g des Schuldners, wenn er nicht zurückzahl­te. Die meisten Gesetze betrafen Höchstgren­zen für den Zinssatz. Anfangs lag er bei gut acht Prozent, nahe dem üblichen Zins. Freilich waren die Römer, eine Nation von Bauern und Soldaten, an Geldgeschä­ften gar nicht interessie­rt. Cato sinnierte: „Anstelle von Landwirtsc­haft könnte man auch Gewinn aus Seehandel suchen, wenn es nicht so gefährlich, oder aus dem Geldverlei­h, wenn er achtbar wäre.“Lieber holten sich die Römer fremde Händler ins Land, vor allem Griechen, und vermietete­n ihnen Geldbuden auf dem Forum.

So ist es griechisch­en Migranten zu verdanken, dass sich Rom zum wichtigste­n Finanzplat­z der Welt entwickelt­e. Mit der Wirtschaft­skraft und wachsendem Wohlstand sanken die Zinsen: auf dem Höhepunkt des Imperium Romanum auf nur noch vier Prozent. Bis das Reich im Chaos versank und die Zinsen langsam in die Höhe kletterten, auf über zwölf Prozent – als Indikator für Schwäche und Unsicherhe­it. Alles ist Wucher. Von da an tappen die Historiker wieder jahrhunder­telang im Dunkeln. Aus der Zeit der Völkerwand­erung fehlen Aufzeichnu­ngen. Und dann versuchte die katholisch­e Kirche, das biblische Zinsverbot durchzuset­zen. „Wenn du deinem Bruder etwas borgst, sollst du keinen Nutzen daraus ziehen“, heißt es im Alten Testament, „Verleihe freigebig und erhoffe dir nichts dabei“im Lukas-Evangelium.

MesopotŻmi­en un© ©Żs frühe Rom erlŻuãten KnechtschŻ­ft Żls Sicherheit für DŻrlehen. HŻãsãurger-Pleiten ruinierten Antwerpen un© führten zum Nie©ergŻng ©er Fugger.

Die Fürsten sekundiert­en. Karl der Große verbot „Zinswucher“und zielte damit nicht nur auf Kredithaie. Denn die Definition in seinen Kapitulari­en war klar: „wenn mehr genommen wird als gegeben“. Doch ganz zum Erliegen kam der lukrative Geldverlei­h nie.

Schon die Bibel lieferte eine Ausflucht: Dem „Bruder“durfte man keine Zinsen abverlange­n, dem heidnische­n Feind aber ausdrückli­ch sehr wohl. Also konnten Juden, denen mit Exkommunik­ation ohnehin nicht zu drohen war, den Christen weiter Geld verleihen. Und Juden wie Christen hielten sich an Sarazenen schadlos. Wobei die Rolle der Juden nur „marginal“war,

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RISD Museum Bankiers und Kredithaie waren beliebte Motive des flämischen Renaissanc­emalers Marinus van Reymerswae­le.
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