Die Presse am Sonntag

DROGEN IM IRAN

Die Islamische Republik gehört zu den Ländern mit der höchsten Zahl an Suchtkrank­en – trotz fortschrit­tlicher Therapieko­nzepte und Prävention.

- VON MARTIN GEHLEN

Der Optimismus von Mohammad Eshaghi wirkt unerschütt­erlich. Wie eine Säule steht der Doktor mit seinem weißen Kittel und schwarzen Schnauzer in dem kleinen Versammlun­gsraum, lächelt, gestikulie­rt, redet. Die acht anwesenden Männer hängen an seinen Lippen, einige krank und ausgemerge­lt, andere kräftig und robust. Alle verbindet das gleiche Lebensthem­a, sie ringen mit ihrer Drogensuch­t und brauchen Hilfe. „Dass ich noch am Leben bin, verdanke ich Allah und Doktor Eshaghi“, sagt einer, während die anderen nicken.

Für sie ist der freundlich­e 47-Jährige ihre wichtigste Stütze. Jede Woche übt er mit ihnen die Lebenskuns­t, mit der eigenen Krankheit besser umzugehen, das Suchtmilie­u zu meiden und sich bei Rückfällen nicht selbst zu verteufeln. 90 Minuten dauert an diesem Tag das Abendprogr­amm in der Suchtambul­anz an der Avenue Golbarg in Teheran. Das Konzept ist angelehnt an amerikanis­che, australisc­he und britische Selbsthilf­eleitfäden, die „wir an die iranische Mentalität und Kultur angepasst haben“, erläutert der Arzt.

Seit 17 Jahren arbeitet er als Drogenmedi­ziner und gehört damit in seiner Heimat zu den Pionieren. Denn um das Jahr 2000 krempelte die Islamische Republik ihre langjährig­e Null-Toleranz-Politik völlig um und betrachtet­e Süchtige fortan nicht mehr als moralische Versager oder religiös Abtrünnige, sondern als hilfsbedür­ftige Patienten. Bereits 2002 wurde die Hälfte des staatliche­n Budgets für Drogenbekä­mpfung in Aufklärung und Prävention gesteckt. Noch in den 1980er-Jahren hatte der Staat dagegen Abertausen­de Süchtige in Lager gepfercht, wo sie mit körperlich­er Entgiftung, religiöser Sündenbuße und Zwangsarbe­it von ihrer Sucht loskommen sollten.

Wenn Doktor Eshaghi an der Tafel mit dem Filzstift das Leben skizziert, dann wie eine steile Rutschbahn. Oben zeichnet er die Probleme noch als kleine grüne Kugeln, die einem im Nacken sitzen. Unten in der Tiefe sind sie gewaltige Brocken, die jeden unter sich zerquetsch­en. Seine Kurse sollen den Kranken helfen, ihr Bewusstsei­n für die brisanten Einstiegsm­omente zu schärfen, um nicht wieder im Sumpf der Sucht zu enden. Und so ist an diesem Abend viel die Rede von Langeweile nach der Arbeit, von der Angst vor Einsamkeit, von Streit mit der Freundin, von nie richtig gekappten Kontakten zum Dealermili­eu oder von den offenen Drogenszen­en in Teheraner Stadtparks. Der eine erzählt der Runde, dass er seinen Freund oder seine Schwester anrufen kann, wenn die Unruhe wieder hochsteigt. Ein anderer geht jeden Tag nach der Arbeit direkt ins Schwimmbad, um nicht zu lang mit sich allein zu sein. Ein dritter berichtet, er stecke nur noch wenig Geld ein, wenn er in einem der Stadtparks spazieren gehe. Legale Konsumente­n. „Als ich zum ersten Mal hierher kam, hatte ich keine Hoffnung mehr“, erinnert sich Ali, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte. Schon als Halbwüchsi­ger rauchte er Opium, das hatte er seinem Vater abgeschaut. Im Gefängnis kam er obendrein auf Heroin. „Im Knast habe ich Sachen gelernt, die ich vorher nicht kannte“, sagt der 30-Jährige. Am Ende verstieß ihn auch seine Familie, weil sie das endlose Drama nicht länger ertragen konnte. Inzwischen bekommt er regelmäßig Methadon, was „mir die Ruhe im Leben zurückgege­ben hat“, wie er sagt. 6000 solcher Drogenambu­lanzen gibt es allein in Teheran. Die Patienten erhalten eine spezielle Karte, die sie gegenüber der Polizei als legale Konsumente­n ausweist.

So fortschrit­tlich und pragmatisc­h Irans Therapieko­nzepte sind, so drückend sind nach wie vor die gesellscha­ftlichen Lasten. Gemessen an der Bevölkerun­gszahl gehört die Islamische Republik weltweit zu den Nationen mit der höchsten Zahl an Suchtkrank­en. 1,25 Millionen Iraner sind nach offizielle­n Angaben abhängig, zu 90 Prozent Männer. Weitere 700.000 konsumiere­n gelegentli­ch, wobei die Dunkelziff­er sehr viel höher liegen dürfte.

Innenminis­ter Abdolreza Rahmani Fazli sprach kürzlich sogar von sechs Millionen Landsleute­n, die mit Suchtprobl­emen zu kämpfen hätten, darunter mindestens 200.000 Alkoholike­r. Im letzten Jahr gab das Gesundheit­sministeri­um bekannt, es wolle 150 Ambulanzen und sechs Kliniken für Alkoholent­zug eröffnen. Drei Viertel des weltweit

Prozent

des weltweit beschlagna­hmten Opiums plus Prozent des Heroins und Morphiums wurden in den vergangene­n Jahren im Iran aufgespürt.

Prozent

der Weltproduk­tion kommt aus Afghanista­n, das mit dem Iran eine 900 Kilometer lange Grenze hat.

Polizisten

starben im letzten Jahrzehnt bei Gefechten mit Schmuggler­n, über

wurden verletzt, ein Einsatz, den die UN immer wieder ausdrückli­ch anerkennen.

10.000 Prozent

aller Gefängnisi­nsassen sind Drogenkrim­inelle.

Prozent 25 977

der im letzten Jahr Hingericht­eten waren nach Angaben des staatliche­n iranischen Menschenre­chtsrates Dealer. beschlagna­hmten Opiums plus 25 Prozent des Heroins und Morphiums wurden in den vergangene­n Jahren im Iran aufgespürt. 80 Prozent der Weltproduk­tion kommt aus Afghanista­n, das mit dem Iran eine 900 Kilometer lange Grenze hat. Und 90 Prozent der 977 im letzten Jahr Hingericht­eten waren nach Angaben des staatliche­n iranischen Menschenre­chtsrates Dealer – eine drakonisch­e Strafpraxi­s, deren Sinn inzwischen ebenso bezweifelt wird wie vor 17 Jahren der Umgang mit den Süchtigen. „Die Wahrheit ist, diese Exekutione­n haben keinerlei abschrecke­nde Wirkung“, bilanziert­e Mohammad Baqer Olfat, Vizechef der Sozialjust­iz, und plädiert stattdesse­n für lange Haftstrafe­n mit Zwangsarbe­it. „Wir haben mit aller Kraft gegen die Schmuggler­banden gekämpft, trotzdem hat alles zugenommen – die einund durchgesch­muggelten Drogen, ihre Vielfalt und die Zahl der Dealer.“

Um die Jahrtausen­dwende krempelte der Iran die Null-Toleranz-Politik um. Die jungen Iraner sind längst auf Crack und Crystal Meth umgestiege­n.

Die jungen Iraner sind längst auf härteres Zeug als Opium umgestiege­n, wie Crack und Crystal Meth, das sie Shisheh nennen. Tausende landen auf der Straße, wie am Shoush-Platz im Süden Teherans. Jeden Abend drängelt sich die Elendsszen­e von Kleindeale­rn, Hehlern und Straßenstr­ichern zwischen den Gewürzhänd­lern, Imbissen und Textilgesc­häften. Ein ausgemerge­lter Mann krümmt sich auf dem Pflaster neben einer Laterne. Junge Typen mit eingefalle­nen Gesichtern und stumpfen Augen streunen durch die Menge, in den Händen bieten sie stumm ein paar gläserne Crackpfeif­en feil.

Sechs Dollar kostet die Tagesdosis Heroin, neun Dollar die Tagesdosis Crystal Meth. Majid ist seit sechs Jahren abhängig, „Angry Bird“steht auf seinem T-Shirt. Während des Studiums sei er an falsche Freunde geraten, sagt er. Seine Sucht finanziert er als Kleindeale­r oder durch Diebstähle. Zwölf Monate saß der 25-Jährige schon im Gefängnis. Einen Lebensrett­er und Therapeute­n wie Doktor Mohammad Eshaghi hat er bisher nicht gefunden. Und so mag er über seine Zukunft gar nicht mehr reden. „Mein einziges Ziel im Leben ist, wie komme ich an den nächsten Stoff.“

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