Die Presse am Sonntag

Die schwindend­e Mittelschi­cht

LŻnge JŻhre gŻlt ©ie ŻmerikŻnis­che Mittelklas­sefamilie Żls Musterãeis­piel für ©ie Welt un© ©ie SŻge vom Tellerw´scher, ©er es mit hŻrter Arãeit zum Million´r ãringt, Żls Ansporn für GenerŻtion­en. Doch ©ie Mittelschi­cht schrumpft ãe©rohlich.

- VON NORBERT RIEF

Es war ein ausgelasse­nes Fest, mit dem Nate vor zehn Jahren die Geburt seines zweiten Sohnes feierte. Die Nachbarn hatten sich in dem Haus in Falls Church, einem kleinen Vorort von Washington, mit Budweiser und Steaks eingefunde­n. Er könne leider nichts spendieren, scherzte Nate damals, er brauche jetzt alles Geld für den zweiten CollegeFun­d.

2016 scherzt Nate ebenfalls über seinen Zweitgebor­enen, allerdings leicht verbittert: „Wenn wir Glück haben, ist er nicht klug genug für das College.“Denn die monatliche­n Einzahlung­en in den Aktienfond­s, mit denen Nate unmittelba­r nach der Geburt seines Sohnes begonnen hat, haben bisher wenig gebracht. Und der „Bankomat“von einst – das Haus mit seinem jährlich steigenden Wert, auf das man immer neue Hypotheken aufnehmen konnte – ist versiegt. „Das College für zwei Kinder zu finanziere­n“, sagt Nate heute sehr ernst, „wird eng.“ Einkommen sanken um vier Prozent. Bisher gehörte es zum typischen Lebenslauf jedes US-Amerikaner­s, vier Jahre möglichst wild und ausgelasse­n auf der Uni zu verbringen, bevor man sich im biederen Lebensstil dem amerikanis­chen Traum widmet. Bei Preisen ab – im US-weit laut Collegeboa­rd günstigste­n Fall – 19.000 Dollar pro Jahr für Ausbildung und Unterkunft an einer öffentlich­en Universitä­t oder ab 42.400 Dollar an einer Privatuni werden viele Jugendlich­e einen neuen Lebenslauf schreiben müssen.

Denn die amerikanis­che Mittelschi­cht ist finanziell unter Druck: Die Einkommen gingen seit dem Jahr 2000 um mehr als vier Prozent zurück (nominal), das Vermögen sank sogar fast auf den Stand von 1983. Der Anteil der US-Amerikaner, die der Mittelschi­cht zugeordnet werden, fiel in 203 von 229 Stadtregio­nen. Erstmals seit 1971 bildet die Mittelschi­cht in den Vereinigte­n Staaten heute nicht mehr die Mehrheit der Gesellscha­ft, und sie erhält auch nicht mehr den Großteil des Einkommens: 1970 gingen noch 62 Prozent des Volkseinko­mmens an die Mittelschi­cht, 29 Prozent an die Oberschich­t. 2014 kassierte die Oberschich­t 49 Prozent des Gesamteink­ommens, 43 Prozent gingen an die Mittelschi­cht und acht Prozent an die Unterschic­ht.

Die gesellscha­ftlichen Veränderun­gen in den USA sind so signifikan­t, dass sich die Forscher des renommiert­en Pew Research Center gleich in zwei Studien innerhalb eines halben Jahres damit beschäftig­ten und die Gründe untersucht­en („The American Middle Class Is Losing Ground“, Dezember 2015, „America’s Shrinking Middle Class: A Close Look at Changes Within Metropolit­an Areas“, Mai 2016). Zur Mittelschi­cht werden in den Studien jene Personen gezählt, die zwei Drittel bis das Doppelte des nationalen Medianeink­ommens haben. Für einen Mittelschi­chthaushal­t – zwei Erwachsene, ein Kind – sind das brutto zwischen 42.000 und 126.000 Dollar pro Jahr, für einen Einpersone­nhaushalt zwischen 24.000 und 72.500 Dollar.

Die Mittelschi­cht franst nach oben und unten aus. Die Anzahl der USAmerikan­er, die der Unterschic­ht zuzurechne­n sind, stieg von 25 Prozent im Jahr 1971 auf 29 Prozent 2015. Die Oberschich­t legte in dem Zeitraum von 14 auf 21 Prozent zu. Die Mittelschi­cht schrumpfte von 61 Prozent auf 50 Prozent. Bricht man die Zahlen auf Fünftel herunter, kletterte der Anteil der Erwachsene­n mit dem geringsten Einkommens­fünftel von 1971 bis 2015 von 16 auf 20 Prozent. Der Anteil des obersten Einkommens­fünftels verdoppelt­e sich in diesem Zeitraum: von vier auf neun Prozent.

Ganz oben stiegen die Einkommen signifikan­t: Seit 1982 erhöhte sich beispielsw­eise das Einkommen amerikanis­cher Firmenchef­s um mehr als 190 Prozent. Im Schnitt verdient ein CEO heute 286-mal mehr als ein durchschni­ttlicher Arbeiter. In den 1970er-Jahren betrug der Unterschie­d noch 34 Einkommen.

Um wie viel reicher die Spitze geworden ist, zeigt ein Blick in die „Forbes“-Liste der 400 US-Bürger mit dem größten Vermögen: 2006 waren erstmals alle aufgeliste­ten Personen Milliardär­e, 2015 besaß das durchschni­ttliche „Forbes“-400-Mitglied 3,9 Milliarden Dollar. Der reichste Amerikaner aus dem Jahr 1982, als die Liste zum ersten Mal erstellt wurde, der Schiffstyc­oon Daniel Ludwig, käme mit seinem damaligen Vermögen heute selbst inflations­bereinigt nicht einmal mehr unter die Top 60. Mehr Arme, mehr Reiche. Um die tief greifende Wende besser zu illustrier­en, verglichen die Forscher die Städte Goldsboro (North Carolina) und Midland (Texas). Das eine ein alter Knotenpunk­t für Eisenbahnl­inien und eine Luftwaffen­basis, Midland wiederum eine Stadt mitten in den Öl- und Erdgasfeld­ern von Texas.

Midlands Mittelschi­cht schrumpfte, weil die amerikanis­che Öl- und Gaswirtsch­aft zwischen 2000 und 2014 einen enormen Aufschwung erfuhr und gestiegene Löhne und Gehälter zahlreiche Menschen in die Oberschich­t der Einkommens­klassen hoben. Ihr Anteil an der Bevölkerun­g der Stadt verdoppelt­e sich in dem Zeitraum von 18 auf 37 Prozent.

In Goldsboro dagegen, wo es keinen Schieferga­sboom gibt und die Stadt den Wandel hin zu Technologi­ezentren wie im neuen Süden der USA nicht schaffte, stieg der Anteil der Erwachsene­n, die zur ökonomisch­en Unterschic­ht zählen, von 27 auf 41 Prozent. Ein Grund dafür ist auch, dass die Beschäftig­ung in der Industrie – traditione­ll das Rückgrat der Mittelschi­cht – seit 2000 US-weit um 29 Prozent gesunken ist. Das Haus als Bankomat. Die amerikanis­che Mittelklas­se galt lang als Musterbeis­piel für die Welt und die Sage vom Tellerwäsc­her, der es mit harter Arbeit zum Millionär bringt, als Ansporn für ganze Generation­en. In den Boomzeiten der Wirtschaft wurde der amerikanis­che Traum millionenf­ach wahr. Später, als das Wachstum abkühlte, konnte man sich deshalb noch viel leisten, weil die Immobilien­preise dank niedriger Zinsen nach oben schossen. Jeder, der sich ein Haus leisten konnte – und auch viele, die es eigentlich nicht konnten (Subprime) –, verwirklic­hte sich den Traum vom Eigenheim. Mit immer neuen Krediten auf das Haus, dessen Marktwert jedes Jahr stieg, finanziert­e man Autos, LEDFernseh­er, Urlaube, die Collegeaus­bildung.

Schon damals, Mitte der 2000erJahr­e, lebte die Gesellscha­ft in einem (Kredit-)Kartenhaus. Im Jahr 2007 hatte jede US-Familie im Durchschni­tt 9000 Dollar Schulden – die Kredite für

Millionen

Einwohner hŻben ©ie USA (StŻn© Dezember 2015).

Dollar

betr´gt ©Żs BruttoinlŻ­n©spro©ukt pro Kopf (StŻn© April 2014). Die USA liegen ©Żmit nŻch ©en ZŻhlen ©es IWF Żuf PlŻtz neun, Österreich belegt in ©er Liste PlŻtz elf (48.957 DollŻr pro Kopf). Auf PlŻtz eins rŻngiert Luxemburg mit 110.424 DollŻr.

Dollar

betr´gt ©Żs HŻushŻltse­inkommen in ©en USA (Me©iŻn) vor Steuern lŻut einer GŻllup-UmfrŻge von 2006 bis 2012. LŻut ©ieser UmfrŻge kŻm ein österreich­ischer HŻushŻlt Żuf 34.911 Euro, PlŻtz eins belegt Norwegen mit 51.489 DollŻr.

Prozent

betr´gt ©er Höchststeu­ersŻtz, ©er bei Einkommen Żb 415.000 DollŻr pro JŻhr zur Anwen©ung kommt. Im Durchschni­tt bezŻhlt ein US-AmerikŻner lŻut TŻx Policy Center eine Einkommens­teuer in Höhe von 19,8 Prozent Żuf Bun©esebene. DŻzu kommen noch lokŻle Steuern von mŻnchen Gemein©en un© mŻnchen Bun©esstŻŻten (zwischen 4,5 un© elf Prozent), ©ie Żber Żuf Bun©esebene gelten© gemŻcht wer©en können. den Haus- oder Wohnungska­uf nicht eingerechn­et. 2006 betrug die Sparquote minus ein Prozent – die Menschen gaben also jeden Monat mehr Geld aus, als sie einnahmen.

Doch dank des Immobilien­booms konnte man sich ein recht angenehmes Leben auf Pump finanziere­n. Als die Immobilien­blase 2007 platzte und die ganze Welt in die Krise stürzte, standen auch viele amerikanis­che Hausbesitz­er vor den Trümmern ihres finanziell­en Gebarens: Plötzlich schuldeten sie den Banken mehr Geld, als ihr Haus überhaupt noch wert war. Die Mittelschi­cht hatte mit den Rückzahlun­gsraten zu kämpfen, die SubprimeKr­editnehmer verloren gleich reihenweis­e ihre Häuser.

Die Mittelschi­cht frŻnst nŻch oãen un© unten Żus, ©ie Unterschie©e wer©en größer. »Nur FŻmilien in ©en oãeren Einkommens­schichten hŻtten einen Vermögensz­uwŻchs.«

Die Pew-Studien haben diese Entwicklun­g mit harten Zahlen untermauer­t: „Die Folgen der Rezession von 2007 bis 2009 waren so gravierend und die Verluste so hoch, dass nur Familien in den oberen Einkommens­schichten im Lauf von 30 Jahren einen Vermögensz­uwachs verzeichne­n konnten“, schreiben die Autoren.

Die Mittelschi­cht besitzt heute nur wenig mehr als im Jahr 1983: Damals betrug das durchschni­ttliche Vermögen (der Wert aller Güter abzüglich der Schulden) einer Mittelschi­chtfamilie (drei Personen) laut Pew 95.879 Dollar. 2013 waren es 98.000 Dollar.

Bemerkensw­ert ist der Verlauf über die Jahre, der die „reichen“Zeiten der Mittelschi­cht zeigt. Von 1983 bis 2007 stieg das Vermögen dank des Immobilien­booms um 68 Prozent auf durchschni­ttlich 161.050 Dollar. Nach dem Platzen der Blase sank es rapide, bis es 2010 den Stand von 98.000 Dollar erreichte, auf dem es seither weitestgeh­end verharrt (in der Oberschich­t, wo die Hauspreise einen geringeren Anteil am Gesamtverm­ögen ausmachen, gab es zwischen 1983 und 2013 eine Verdoppelu­ng auf 650.000 Dollar, in der Unterschic­ht fiel das Vermögen in diesem Zeitraum laut Pew von 11.500 auf 9500 Dollar). Aristotele­s und die Mittelschi­cht. Was bedeutet das Schwinden der Mittelschi­cht für die Gesellscha­ft? Eine Gefahr, wie Tobias Symanski in seinem Buch „Die Mittelstan­dsorientie­rung in der Konzeption der Sozialen Marktwirts­chaft“(Tectum-Verlag) unter Bezug auf Aristotele­s Schriften meint.

Wo der Mittelstan­d reich vertreten sei, bestehen auch die beste Gemeinscha­ft und die beste Verfassung des Staates, schreibt Symanski. Die Mittelschi­chten seien diejenigen im Staat, die der Vernunft am leichteste­n gehorchen. Sie seien „die Geheimwaff­e der Demokratie“.

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