»Limits sind nur ein Mangel an Kreativität«
Der Amerikaner Travis Rice ist der beste Snowboarder seiner Zeit, außerdem Galerist, Filmstar und Abenteurer. Er spricht über sündteure Liftkarten, den Skifahrer in seinem Herzen und wirft einen kritischen Blick auf seine Heimat.
Snowboarden hat einst von den USA aus einen Siegeszug angetreten. Der Boom ist aber längst vorbei, auch die Umsätze mit den Boards sind eingebrochen. Travis Rice: Einer der Gründe ist, dass die Leute aufgehört haben, nach draußen zu gehen. Ein Beispiel: Mein Vater war ein Backpacking-Guide in der Wind River Range, einer unglaublich schönen Gegend in Wyoming. Als Kind war ich bei den zweiwöchigen Touren als Lama Boy mit dabei, ich war für die Lamas verantwortlich, die für die Kunden die Ausrüstung trugen. Heute ist es dort beinahe gespenstisch, du kannst wochenlang da draußen sein, ohne irgendjemanden zu sehen. Ein anderes Problem sind die 130 Dollar, die eine Tageskarte im Jackson Hole Mountain Resort, Ihrem Heimatskigebiet, kostet. Wer kann sich das leisten? Snowboarden ist teuer, das tut vielen Leuten weh. Aber ich glaube nicht, dass das der Kern des Problems ist. Wir sind einfach zu beschäftigt, um für eine Woche oder auch nur für einen Nachmittag rauszugehen. Wir schreiben ja E-Mails bis Mitternacht. In den Bergen ticken die Uhren anders? Manchmal herrscht dort ein langsamerer Rhythmus. Ich genieße das, so wird einem unser Irrsinn erst bewusst. Auch ich checke ja jeden Tag meine Mails, bin in den sozialen Netzwerken – ein toller Weg, um zu kommunizieren und Ideen zu teilen, aber auch eine Sucht. Sie sind in Jackson, Wyoming, aufgewachsen. Auffallend viele der besten Snowboarder und Extremskifahrer sind dort beheimatet. Was macht diesen Ort so besonders? Jackson ist ein Mekka, ein einzigartiger Ort mit einer starken Gemeinschaft. Und natürlich wunderschön, gleich um die Ecke liegt der Yellowstone-Nationalpark, darüber thront die Teton Range. Er ist abgeschieden, die nächste größere Stadt, Salt Lake City, ist fünf Stunden entfernt. In Europa gibt es so viele hohe Berge und Skigebiete, aber in den USA ragt ein gutes Resort schnell heraus. Darüber hinaus ist es ein Ort, der alternatives Denken anzieht. Es gibt viele Kreative, Künstler, Musiker und alle möglichen Heiler. Sie selbst haben dort eine Kunstgalerie namens Asymbol eröffnet. Ich habe mit vielen talentierten Fotografen und Künstlern gearbeitet, aber es gab keinen Ort, an dem sie ihre Arbeiten zeigen und Interessierte treffen konnten. Vor acht Jahren habe ich deshalb Asymbol gegründet. Wir zeigen Arbeiten über den Naturraum, meist haben sie mit Snowboarden und Surfen zu tun. Fünf Prozent des Umsatzes kommen dem Umweltschutz zugute. Eine furchtbare Geschäftsentscheidung (lacht), aber wir wollten auch etwas Gemeinnütziges damit tun. Ihre Filmprojekte hingegen sind beinhartes Geschäft, es wird enormer Aufwand betrieben, Sie müssen Bilder liefern. Es gibt sicher einen gewissen Druck. Aber ich wollte das alles, ich bin kein Opfer von irgendjemanden. Außerdem spüre ich mehr Druck von mir selbst als von außen. In Ihrem neuesten Werk, „The Fourth Phase“, bezeichnen Sie sich als Besessener Ihrer eigenen Visionen. Snowboarden ist ein ständiges Spiel von Ideenbildung und Umsetzung. Denn wir sind keine Adrenalinjunkies. Alles ist Visualisierung: Erst in deinem Kopf, dann mit deinem Körper. So ist auch der Film zu sehen, eigentlich jeder Film und jedes kreative Projekt. Zuerst hat jemand eine Idee, nur Ideen sind wertlos, wenn man sie nicht umsetzt. In einer Szene ist Ihrem Filmpartner Mark Landvik, einem erfahrenen Big Mountain Rider aus Alaska, die Gefahr zu groß. Er kehrt um, Sie nicht. Ist es Teil Ihres Erfolgs, mehr Risiko in Kauf zu nehmen als andere? Von außen mag das so wirken. Ich aber glaube, Risiko ist relativ. Vielleicht fühle ich mich in gewissen Szenarien einfach wohler als andere. Nehmen Sie einen Komiker: Ich könnte niemals auf die Bühne gehen und Leute zum Lachen bringen, ich hätte Angst davor. Aber für einen Komiker ist das alltäglich. In der Ungewissheit ist immer auch Platz für Entwicklung, ich glaube, das ist gesund. Vielleicht nicht die Dinge, die ich mache, aber der Prozess, an seine Grenze zu gehen. Ich lerne doch so viel mehr über mich selbst in unbehaglichen Situationen, ich wachse auch nicht als Mensch, wenn ich mich ständig wohlfühle. Und wie finden Sie heraus, wo Ihre Grenzen liegen? Einer der wichtigsten Faktoren ist Intuition. Und einen Ort der Stille zu finden, abseits des Trubels, des ständigen Nachdenkens. Denn wenn man es wirklich herunterbricht, ist ein Limit nur ein Mangel an Kreativität. Extremsportfilme wollen mittlerweile nicht nur Actionbilder liefern, sondern Geschichten erzählen. Sie sind für „The Fourth Phase“dem Wasserkreislauf gefolgt, von Wyoming über Japan nach Kamtschatka und zurück nach Alaska. Sie wollten die Bedeutung für das Wetter erklären. Überall, wo wir in den drei Jahren gefilmt haben, sahen wir verrücktes Wetter. Auch für die Einheimischen waren es absolut ungewöhnliche Verhältnisse. Es besteht kein Zweifel, der Klimawandel ist real. Für einen Wintersportler verheißt das nichts Gutes. Der gängige Ansatz ist: Da ist dieses Armageddon, dieses Weltuntergangsszenario, der Planet stirbt. Ich bevorzuge es, den Klimawandel als Geschenk zu sehen, ich bin dankbar dafür. Wir sollten dem Klimawandel den Nobelpreis geben, denn er kann unsere Ge- wohnheiten ändern. Und das ist der einzige Weg, wie wir als globale Zivilisation überleben. Unglücklicherweise müssen wir es vorher bis zum Rand der Zerstörung bringen. In der US-Politik etwa verhindern Wirtschaftsinteressen, das Richtige zu tun. Es ist absurd, dass Geschäftsinteressen gegen die Gesundheit, das Überleben und die Lebensqualität der Bevölkerung abgewogen werden. Sie selbst predigen Naturverbundenheit und Nachhaltigkeit, um dann mit Hubschraubern, Snowmobilen und ganzen Filmcrews in entlegenste Gebiete vorzudringen. Das ist eine recht einfache Kritik. Ehrlich gesagt: Wir brauchen diese Technik, um im Gelände filmen zu können. Ich denke, unser Ziel, diese fantastischen Orte und die Freude an der Natur zu zeigen, rechtfertigt das. Je mehr den Menschen die Welt da draußen bewusst wird, desto eher achten sie darauf, wie sie sie beeinflussen. Wir wollen inspirieren: Echte Erfahrungen mit Freunden in der Natur sind Nahrung für die Seele, sie geben Kraft. Solche Erfahrungen sind etwas, was wir kollektiv brauchen. Hat es Sie für solche Erlebnisse auch schon in die österreichischen Berge verschlagen? Ich hatte unglaubliche Erfahrungen hier. Ich hatte auch gute Zeiten in Frankreich, aber in der Höhenlage dort ist es sehr windig. Auch in Italien, aber dort kann es schnell warm werden. Meine beste Zeit in Europa habe ich in Österreich verbracht. In der Vergangenheit war ich auch gern beim Air and Style Contest. Die Contests haben Sie längst hinter sich gelassen. Vermissen Sie den Wettkampf? Ja. Ich liebe es, mich zu messen, ich liebe die Aufregung, bei einem großen Contest zu sein. Nichts ist besser dazu geeignet, dein höchstes Potenzial abzurufen, als der Wettkampf. Aber was die Jungs heute beim Big Air, beim Slopestyle und in der Halfpipe machen, ist erstaunlich und verrückt zugleich, nicht annähernd würde ich noch an dieses Level herankommen.
Travis Rice
wird am 9. Oktober 1982 in Jackson, Wyoming, geboren, wo er heute noch lebt.
X-Games, Air & Style
Nach Erfolgen auf der Contest-Tour (Gold X-Games 2002, Sieg Air & Style 2006) legt er seinen Fokus auf das freie Gelände und wird einflussreichster Big Mountain Rider seiner Generation.
Seine Filmprojekte
„That’s It, That’s All“(2008) und „The Art of Flight“(2011) gelten als Meilensteine.
„The Fourth Phase“
In seinem neuen Werk (Oktober 2016) folgt Rice drei Jahre lang dem nordpazifischen Wasserstrom von Wyoming nach Japan, Kamtschatka und Alaska.
Familie
Sein Vater war Mitglied der Jackson Hole Ski Patrol. Seit neun Jahren ist Rice mit Evan Mack zusammen. „Sie ist praktisch meine Frau.“ Aber können immer artistischere Tricks über Schanzen wirklich die Zukunft des Snowboardsports sein? Die Zukunft liegt in den Händen und in der Kreativität der nächsten Generation. Das ist vielleicht die politisch korrekte Antwort, aber ich glaube das wirklich. In Zukunft werden Snowboarder auf dem höchsten Level alles einsetzen müssen, was sie in ihrer Karriere gelernt haben. Die Jungs, die heute einen Quad Cork 1800 (vier Umdrehungen um die Achse und fünf Rotationen, Anm.) in den Parks stehen, werden diese Erfahrungen genauso benötigen wie die Fähigkeiten, alle Geländeverhältnisse zu bewältigen. 2012 habe ich selbst einen Contest namens Supernatural (Wettkampf für FreestyleSnowboarder im freien Gelände, Anm.) ins Leben gerufen, denn die Contests helfen, die Richtung vorzugeben. Ich glaube, es liegt ein neues Kapitel des wettkampfmäßigen Snowboardens vor uns. Stehen in Ihrem Keller eigentlich auch Skier herum? Nein, aber ich bin im Herzen ein Skifahrer. Ich bin auf Skiern aufgewachsen, habe auf Skiern die Berge schätzen gelernt. Der Streit zwischen Skifahrern und Snowboardern ist überholt, er ist engstirnig. Beide sind in der Natur, haben Spaß in den Bergen. Ich persönlich finde Snowboarden einfach lustiger. Jedes Frühjahr überlege ich, Skier auszuleihen und Ski fahren zu gehen. Aber ich genieße Snowboarden so sehr, dass ich keinen Tag hergeben möchte. In Ihrem neuen Film sagen Sie: „Suchen bedeutet, niemals zufrieden zu sein.“Sie sind noch immer nicht zufrieden? Mit suchen meine ich, Teil der Gesellschaft zu sein, aber nicht unbedingt zu wissen, wie man hineinpasst, die größeren Fragen im Leben zu stellen. So gesehen suchen wir alle auf unsere eigene Art und Weise, bis wir uns einigermaßen wohlfühlen in unserer Haut. Derzeit bin ich tatsächlich ziemlich zufrieden. Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe.