Mitten ins amerikanische Herz
Aktuelle US-Literatur. In »Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens« geht es vordergründig ums Essen. In Wahrheit ist das Buch eine sinnliche Reise in ein weites Land.
Lutefisk ist eigentlich schuld daran, das Eva Thorvald keine Mutter hat. Lutefisk ist eine dänische Spezialität, die Weiterverarbeitung eines Trockenfischs, die vor allem zu Weihnachten gegessen wird, im besten Fall aussieht wie gelierter Nebel, riecht wie gekochtes Aquariumswasser und seinen Produzenten monatelang in penetrante Fischdämpfe hüllt. Nachdem Lars Thorvald, Evas Vater, schon als Teenager Jahr für Jahr Lutefisk herstellen musste, löste er seit jeher beim anderen Geschlecht höchstens Ekel aus und lernte daher auch später nie so richtig, mit Frauen umzugehen. Weshalb Evas Mutter, Cynthia, bei der ersten Gelegenheit mit einem Sommelier durchbrannte und Lars mit der gemeinsamen Tochter sitzen ließ.
Das ist eine kleine Kostprobe, wie es sich anfühlt, „Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens“zu lesen. Vordergründig erzählt Autor J. Ryan Stradal einfach, aber kunstfertig, seine lose zusammenhängenden Geschichten, die viel mit Essen zu tun haben: mit frisch gefangenem Zander aus glasklaren Seen, mit selbst geschossenem Wild, mit unter peniblen Biovorgaben angebautem Bantam-Mais, mit Kuchenriegeln, die göttlich schmecken, jeden Preis gewinnen, allerdings auf Grund ihres Fett-Zucker-Gehalts eine Gesundheitswarnung brauchten. Hintergründig aber nimmt Stradal den Leser mit auf eine spannende Reise in ein weites Land voller Gegensätze. Er destilliert, was das heutige Amerika ausmacht, übersetzt es in kulinarische Impressionen und serviert diese dem Leser in delikaten Happen. Guter Geschmack. Angelpunkt der Geschichte ist Eva Thorvald, eine der angesagtesten Köchinnen Amerikas, auf deren Pop-up-Dinner Menschen jahrelang warten und für die sie 5000 Dollar pro Kopf bezahlen. Schon als Elfjährige kultiviert Eva in ihrem Kleiderkasten eine Chilizucht, als 17-Jährige beeindruckt sie einen Starkoch mit ihrem Geschmackssinn, später verführt sie ihre Umgebung mit ihrer Kochkunst, ihrem sehr großen, sehr blonden Äußeren und damit, dass sie definitiv ihre Bestimmung gefunden hat. Im Alter von 24, stellt eine Bekannte fest, die sie länger nicht mehr gesehen hat, ist Eva nicht nur eine Frau geworden, sondern „eine Frau mit Ausrufezeichen, die Sorte zäher Urfrau aus dem Pleistozän, von der alle Frauen abstammen“.
Überhaupt sind die Frauen in „Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens“eindeutig das stärkere Geschlecht. In Wahrheit brauchen sie die Männer nur zur Zierde, allesamt brennen sie für etwas anderes. Bei Evas Mutter Cynthia ist es der Wein, bei Eva selbst das Kochen, bei ihrer Cousine Braque ist es Softball, bei Pat Prager sind es die perfekten Kuchenriegel. Frauen sind die Hauptzutat in Stradals Roman – die Männer liefern allerdings die für den Geschmack nötigen Aromen, Duftnoten und nicht selten die Bitterstoffe. Die Frauen sind Pionierinnen, Abenteuerinnen, sie verschieben immer wieder die Grenzen. Stradals Männer müssen sich warm anziehen.
„Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens“ist nicht der erste Roman, der auf dem Grund von Koch- töpfen nach dem Sinn des Lebens sucht. Der schöpferische Akt des Kochens und der sinnliche Akt des Essens werden gern als Sinnbild für das Leben an sich genommen. J. Ryan Stradal geht damit sehr modern und bodenständig um. Zwar spielen auch bei ihm Lebensmittel eine zentrale Rolle, zwar kann man auch hier einige vielversprechende Rezepte abstauben, doch wird dieser Aspekt nie so dominant, dass er die Handlung aussticht. Stradal erweist sich außerdem als höchst einfallsreich, was man mit Lebensmitteln alles anstellen kann: Margaritas werden bei ihm zum letzten Gnadenakt, Chilis zur gefährlichen Waffe, Kuchenriegel zum Mittel der Emanzipation. Manchmal behandelt er Essen wie Kunst, manchmal schreibt er spannende Geschichten über Leute, denen es egal ist, was sie in den Mund schieben. Wem es hingegen nicht egal ist, was er liest, der sollte sich in die „Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens“einweihen lassen.