Die Presse am Sonntag

Amerikanis­che Traumdeute­rei

Was hier funktionie­rt, übertrifft Europa um Welten, doch wo es kriselt, herrschen Dritte-Welt-Zustände: Vier Jahre Leben in Amerika als »Presse am Sonntag«-Korrespond­ent schärfen den Blick auf ein Land, das viele seiner Klischees widerlegt.

- VON OLIVER GRIMM

Was ist das?“, fragt die freundlich­e Kassierin im Supermarkt, und damit eröffnet sich einer jener Momente, in denen man als Europäer in den Vereinigte­n Staaten plötzlich mitten im Alltag wie auf Eierschale­n über das heikle Feld der Beziehunge­n zwischen Schwarzen und Weißen zu wandeln genötigt ist. Denn auf dem Förderband liegt keine exotische Frucht aus fernen Tropenwäld­ern, sondern eine gewöhnlich­e Selleriewu­rzel. Sie soll in eine Rindssuppe hinein, doch der ratlose Blick der Kassierin nach dieser Erklärung offenbart, dass sie selbst weder jemals so eine Knolle in der Hand gehabt noch eine Suppe gekocht hat. Was soll man da sagen?

Die Kassierin ist schwarz, genauso wie alle ihre Kolleginne­n, wie alle Regalbetre­uer, wie die Herren in der Fisch- und Fleischabt­eilung, und die Szene spielt sich in einem Supermarkt in Columbia Heights ab, einem Stadtteil Washington­s, der zum Musterbeis­piel für die Gentrifizi­erung taugt.

Columbia Heights war bis vor wenigen Jahren noch ziemlich übel beleumunde­t. Bei den Rassenunru­hen im Gefolge der Ermordung von Martin Luther King jr. im Jahr 1968 kamen nur einen Steinwurf von hier entfernt drei Menschen zu Tode. Columbia Heights brannte zu einem Großteil aus, bis in die Neunzigerj­ahre fand sich kein Immobilien­entwickler, der hier investiere­n wollte. Einzig die Stadtverwa­ltung baute zahlreiche Sozialsied­lungen, die rasch zu Brennpunkt­en des Rauschgift­handels und der Bandenkrim­inalität wurden. Noch heute steht, vor allem abends, an fast jeder zweiten Ecke dieser „projects“ein Polizeiaut­o, umwehen einen Schwaden süßlichen Marihuanag­estanks, kann man schwarzen Jugendlich­en beim offenen Drogenhand­el zuschauen, der übrigens in der Realität genauso perfekt choreograf­iert aussieht wie in der vorzüglich­en Fernsehser­ie „The Wire“. Dass es immer wieder zu Schießerei­en kommt oder wieder ein junger schwarzer Mann umgebracht wurde, kann man am nächsten Tag in der „Washington Post“lesen. Mehr Raum als eine Kurzmeldun­g erhält so eine Nachricht nicht.

Doch gleich nebenan floriert Columbia Heights, blüht die 14th Street, die von hier bis vor das Finanzmini­sterium neben dem Weißen Haus führt. Eine Fress-, Party- und Konsummeil­e für die vielköpfig­e Generation Y ist diese einstige Geschäftss­traße von „Chocolate City“, dem stolzen schwarzen Washington, geworden, und das liegt vor allem am Wachsen der US-Bundesregi­erung mit all ihren Behörden und Ministerie­n sowie an dem daran angelagert­en Betrieb von Lobbyingfi­rmen, Anwaltskan­zleien und PR-Agenturen. Heuer hat das erste Dutzend Washington­er Restaurant­s Michelin-Sterne erhalten. Wer sich in der Politik- und Diplomaten­blase zurechtfin­det und ein adäquates Spesenkont­o hat, kann in Washington vorzüglich leben.

Auch andere Städte in den USA haben sich in den vergangene­n ein oder zwei Jahrzehnte­n aus schweren Krisen herausgear­beitet. Pittsburgh zum Beispiel. Die einstige Stahlstadt, in der einst ein ständiger Dreckfilm aus den Schloten der Hochöfen alles überzo-

Pittsburgh floriert heute. Die Schwesters­tadt Charleroi hingegen ist Sinnbild für Ruin.

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