Amerikanische Traumdeuterei
Was hier funktioniert, übertrifft Europa um Welten, doch wo es kriselt, herrschen Dritte-Welt-Zustände: Vier Jahre Leben in Amerika als »Presse am Sonntag«-Korrespondent schärfen den Blick auf ein Land, das viele seiner Klischees widerlegt.
Was ist das?“, fragt die freundliche Kassierin im Supermarkt, und damit eröffnet sich einer jener Momente, in denen man als Europäer in den Vereinigten Staaten plötzlich mitten im Alltag wie auf Eierschalen über das heikle Feld der Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen zu wandeln genötigt ist. Denn auf dem Förderband liegt keine exotische Frucht aus fernen Tropenwäldern, sondern eine gewöhnliche Selleriewurzel. Sie soll in eine Rindssuppe hinein, doch der ratlose Blick der Kassierin nach dieser Erklärung offenbart, dass sie selbst weder jemals so eine Knolle in der Hand gehabt noch eine Suppe gekocht hat. Was soll man da sagen?
Die Kassierin ist schwarz, genauso wie alle ihre Kolleginnen, wie alle Regalbetreuer, wie die Herren in der Fisch- und Fleischabteilung, und die Szene spielt sich in einem Supermarkt in Columbia Heights ab, einem Stadtteil Washingtons, der zum Musterbeispiel für die Gentrifizierung taugt.
Columbia Heights war bis vor wenigen Jahren noch ziemlich übel beleumundet. Bei den Rassenunruhen im Gefolge der Ermordung von Martin Luther King jr. im Jahr 1968 kamen nur einen Steinwurf von hier entfernt drei Menschen zu Tode. Columbia Heights brannte zu einem Großteil aus, bis in die Neunzigerjahre fand sich kein Immobilienentwickler, der hier investieren wollte. Einzig die Stadtverwaltung baute zahlreiche Sozialsiedlungen, die rasch zu Brennpunkten des Rauschgifthandels und der Bandenkriminalität wurden. Noch heute steht, vor allem abends, an fast jeder zweiten Ecke dieser „projects“ein Polizeiauto, umwehen einen Schwaden süßlichen Marihuanagestanks, kann man schwarzen Jugendlichen beim offenen Drogenhandel zuschauen, der übrigens in der Realität genauso perfekt choreografiert aussieht wie in der vorzüglichen Fernsehserie „The Wire“. Dass es immer wieder zu Schießereien kommt oder wieder ein junger schwarzer Mann umgebracht wurde, kann man am nächsten Tag in der „Washington Post“lesen. Mehr Raum als eine Kurzmeldung erhält so eine Nachricht nicht.
Doch gleich nebenan floriert Columbia Heights, blüht die 14th Street, die von hier bis vor das Finanzministerium neben dem Weißen Haus führt. Eine Fress-, Party- und Konsummeile für die vielköpfige Generation Y ist diese einstige Geschäftsstraße von „Chocolate City“, dem stolzen schwarzen Washington, geworden, und das liegt vor allem am Wachsen der US-Bundesregierung mit all ihren Behörden und Ministerien sowie an dem daran angelagerten Betrieb von Lobbyingfirmen, Anwaltskanzleien und PR-Agenturen. Heuer hat das erste Dutzend Washingtoner Restaurants Michelin-Sterne erhalten. Wer sich in der Politik- und Diplomatenblase zurechtfindet und ein adäquates Spesenkonto hat, kann in Washington vorzüglich leben.
Auch andere Städte in den USA haben sich in den vergangenen ein oder zwei Jahrzehnten aus schweren Krisen herausgearbeitet. Pittsburgh zum Beispiel. Die einstige Stahlstadt, in der einst ein ständiger Dreckfilm aus den Schloten der Hochöfen alles überzo-
Pittsburgh floriert heute. Die Schwesterstadt Charleroi hingegen ist Sinnbild für Ruin.