Die Presse am Sonntag

Mrs. Satan und das Rennen um das Weiße Haus

Mehr als hundert Jahre vor Hillary Clinton kandidiert­e Victoria Woodhull als erste Frau in den Vereinigte­n Staaten für das Präsidente­namt. Als Börsenmakl­erin, Herausgebe­rin und Frauenrech­tsaktivist­in war die Tochter eines Betrügers im New York der 1870er-

- VON MARLIES KASTENHOFE­R

Es war ein Skandal im New York des späten 19. Jahrhunder­ts: Hoch oben auf ihrem Podest stand die hitzige Rednerin und versetzte ihr Publikum in Ekstase. „Dieser Parteitag wird eine revolution­äre Welle auslösen, die über die ganze Welt hinwegfege­n wird“, polterte die junge Frau. Unter minutenlan­gem Getöse nominierte­n die Delegierte­n der Equal Rights Party am 11. Mai 1872 Victoria Woodhull zur Kandidatin für die Präsidents­chaftswahl­en im November. Die 686 Anhänger der radikalen Splitterbe­wegung waren mehr von dem Protest gegen die etablierte­n Großpartei­en, Demokraten und Republikan­er als von ihrer Hoffnung auf Erfolg getrieben.

Nicht nur kürte die neu gegründete Partei erstmals in der Geschichte der USA – und 46 Jahre bevor US-Bürgerinne­n das Wahlrecht zuerkannt würde – eine Frau zur Präsidents­chaftskand­idatin, der Konvent ging auch einen Schritt weiter: Er ernannte den Afroamerik­aner Frederick Douglass, einen Vorreiter im Kampf gegen die Sklaverei, in Abwesenhei­t zum Vizekandid­aten. Der ehemalige Sklave lehnte die Nominierun­g zwar später ab, doch für die Equal Rights Party zählte die Symbolik: Sie beanspruch­te für Frauen, Afroamerik­aner und weiße Männer die gleichen Rechte. „Schamlose Prostituie­rte“. Die Medien überschlug­en sich in ihrer Kritik an dem Parteitag mit den „kurzhaarig­en Frauen und langhaarig­en Männern“. Nicht genug, dass die Linksradik­alen „eine schamlose Prostituie­rte und einen Schwarzen“nominierte­n, sie degradiert­en noch dazu den Mann zum Vize. Woodhull wusste zu provoziere­n. Sie war eine Künstlerin der Dramatisie­rung. Mit ihrem Willen, soziale Tabus anzusprech­en, katapultie­rte sich die charismati­sche Rednerin an die Spitze der extremen Flügel dreier Bewegungen: der Suffragett­en, der Arbeiterbe­wegung und Spiritiste­n, die an den Einfluss der Geister Verstorben­er glaubten.

Knapp hundert Jahre vor der Hippiebewe­gung galt die Wahl-New-Yorkerin als „Apostel der freien Liebe“. Ihr Hauptanlie­gen war nicht das Frauenwahl­recht, sondern die Abschaffun­g der Ehe als Form der „Sklaverei“und der „legalen Prostituti­on“. Frauen, die nicht aus Liebe, sondern aus materielle­n Gründen heirateten, seien „faule Bettler, Feiglinge, Prostituie­rte“, schrieb sie in ihrer „Woodhull und Claflin’s Weekly“. Es war die erste US-Publikatio­n, die das „Kommunisti­sche Manifest“von Karl Marx und Friedrich Engels in englischer Übersetzun­g abdruckte.

Gekonnt wandelte die zweifache Mutter ihren schlechten Ruf in Publicity für ihre politische Agenda um. 1870 traten Victoria und ihre sechs Jahre jüngere Schwester, Tennessee Claflin, mit der Firma Woodhull, Claflin & Co. an die nationale Öffentlich­keit. Sie waren die ersten Börsenmakl­erinnen an der Wall Street. Hin- und hergerisse­n zwischen ihrem „maskulinen“Auftreten und ihrer Schönheit sollen sich Männerscha­ren an die Scheiben des Büros der „bezaubernd­en Brokerinne­n“gedrückt haben: In der Öffentlich­keit stehende Frauen galten als unmoralisc­h und sexuell käuflich. Der „New York Evening Telegram“sah gar die Maskulinit­ät der Börsenwelt gefährdet. Ein Karikaturi­st zeichnete die Schwestern auf einer Pferdekuts­che, wie sie die Bullen und Bären der Wall Street vor sich herpeitsch­en.

Selbst in Männerdomä­nen wie dem Aktiengesc­häft könnten sich Frauen behaupten, meinten die frischgeba­ckenen Brokerinne­n. Bei der Finanzieru­ng des Unternehme­ns folgten sie jedoch alten Mustern: Tennessee war Mätresse und Hellseheri­n des Eisenbahnb­arons Cornelius Vanderbild­t. Man munkelte, er habe durch ihre medialen Fähigkeite­n ein Vermögen an der Börse verdient.

Nicht nur die Negativsch­lagzeilen machten Woodhull zu einer der ersten modernen Celebritys: 1838 als Tochter des Betrügers Reuben Claflin und einer deutschstä­mmigen Spiritisti­n in Ohio geboren, verkörpert­e sie auf ihre ganz eigene Art den amerikanis­chen Traum. Schon als Kind war Victoria, nach der britischen Königin benannt, überzeugt, für Größeres bestimmt zu sein. In erster Ehe mit einem Alkoholike­r verheirate­t, zog sie jahrelang als Hellseheri­n und magnetisch­e Heilerin durch das Land, um ihre zwei Kinder zu versorgen. Erst 1868 wendete sich das Blatt für die 30-Jährige: Sie siedelte mit dem Kriegsvete­ranen James Harvey Blood, mit dem sie zehn Jahre in wilder Ehe lebte, nach New York um – auf Anraten des griechisch­en Redners Demosthene­s, der ihr in einer Vision erschienen sein soll. Blood war einer ihrer wichtigste­n Mentoren, der ihre meisten Reden verfasst haben soll.

Woodhulls Rennen um die Präsidents­chaft gewann im Jänner 1871 an Fahrt. Als zweite Frau nach der renommiert­en Frauenrech­tlerin und ihrer Unterstütz­erin Elizabeth Cady Stanton, sprach sie vor dem Justizauss­chuss des Repräsenta­ntenhauses. Frauen stehe das Wahlrecht laut Verfassung bereits zu, da Wahlberech­tigte in der 14. Novelle nicht explizit als männlich bezeichnet würden, argumentie­rte sie. Und schloss ihr Statement mit einer Drohung: Sollten Frauen weiter nicht in politische Entscheidu­ngen einbezogen werden, hätten sie keine andere Wahl, als selbst zu regieren. Radikaler Coup. Mit ihrer Medienpräs­enz war Woodhull eine Bürde und ein Vorteil für die Frauenbewe­gung zugleich. Ein Jahr nach ihrem Börsendebü­t hatte sie selbst radikalere Suffragett­en mit ihrem „notorische­n Auftreten“vergrault. Sie fürchteten die Diskrediti­erung der ganzen Bewegung. Nicht zuletzt ihre chaotische­n Familienve­rhältnisse – Eltern, Ehemann und alkoholsüc­htiger Exmann lebten in einem Haushalt – waren ein gefundenes Fressen für Kritiker der Suffragett­en: Die Politik mache Frauen unehrbar. So ging Woodhull wegen einer Karikatur in der „Harpers Weekly“als „Mrs. Satan“in die Geschichte ein. Schwarz gekleidet, mit Dämonenflü­geln auf dem Rücken hält sie darin ein Plakat, das freie Liebe propagiert. Hinter ihr erklimmt eine Frau, mit einem Alkoholike­r und Kindern auf den Schultern, einen steinigen Pfad. Trotz ihrer schweren Bürden lehnt sie Woodhulls Weg ab.

»Was bleibt Frauen anderes, als die Mütter der künftigen Regierung zu werden?«

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