Emotionale Vermächtnisse
Die Universität Stanford hat ein Briefprojekt initiiert, das dabei hilft, rechtzeitig auszudrücken, was am Ende des Lebens wichtig ist.
Es war ausgerechnet ein wortkarger, stoischer Veteran der Marines, der die amerikanische Ärztin und Stanford-Professorin Vyjeyanthi „V. J.“Periyakoil in seinen letzten Lebensmonaten zu einem hochemotionalen Projekt inspirierte, das inzwischen Tausende Menschen berührt. Die Direktorin des Ausbildungsprogramms für Palliativmedizin an der Stanford University hatte als Ärztin viele Kranke und Angehörige in deren letzten Lebenswochen und -monaten begleitet, aber dieser Mann blieb ihr besonders in Erinnerung. Mit Krebs im Endstadium verbrachte er seine letzten Wochen im Krankenhaus, wo ihn seine Frau, mit der er über 50 Jahre verheiratet war, jeden Tag besuchte, um mit ihm stundenlang gemeinsam schweigend fernzuschauen.
Als ihm klar wurde, dass seine Tage gezählt waren, brach er seiner Ärztin gegenüber das Schweigen und erzählte ihr, wie traurig er sei, nicht genug Zeit mit seiner Frau, die er über alles liebte, verbracht zu haben, und wie stolz er auf seinen Sohn sei, der als Marine in seine militärischen Fußstapfen getreten war. „Eines Nachmittags habe ich diese Aussagen seiner Frau und seinem Sohn gegenüber erwähnt“, schreibt Periyakoil in einem jüngst erschienenen Artikel in der „New York Times, „sie haben zuerst einander und dann mich ungläubig angeschaut, mir dann für meine Freundlichkeit gedankt, aber mitgeteilt, dass mein Patient unfähig sei, solche Emotionen auszudrücken.“Um ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen, zeichnete die Ärztin später mit dem Einverständnis ihres Patienten seine Aussagen auf, die er in Gegenwart seiner Familie nicht wiederholen konnte – und gab sie später den Hinterbliebenen als Erinnerungsstück. Ein Stück, das beim Anhören beide zu Tränen rührte.
Und das eine Idee ins Rollen brachte, die 2015 als „Stanford Friends and Family Letter Project“ins Leben gerufen wurde und mittlerweile in acht Sprachen – von Spanisch über Hindi bis Urdu und Chinesisch – Menschen am Ende ihres Lebens ermutigt und unterstützt, ihren Lieben mitzuteilen, was sie ihnen bedeutet haben, was ihnen wichtig war, was sie bedauern oder worauf sie stolz sind.
Die Idee kam so gut an, dass es das Briefprojekt schon in acht Sprachen gibt.
Fast immer Bedauern. In über 15 Jahren als Ärztin habe sie in unzähligen Gesprächen mit Menschen am Ende ihres Lebens gelernt, dass die häufigste Emotion Bedauern ist, erklärt Periyakoil. „Bedauern darüber, dass sie sich nie die Zeit genommen haben, zerbrochene Freundschaften und Beziehungen zu reparieren. Bedauern darüber, dass sie ihren Freunden und Familienmitgliedern nie gesagt haben, wie viel sie ihnen bedeuten, und darüber, dass sie ihren Kindern als überkritische Mutter oder als fordernde, strenge Väter in Erinnerung bleiben“, so die Ärztin.
Der Brief, der sowohl zum Download und Ausdruck auf der StanfordSeite zur Verfügung steht, aber auch online verfasst und regelmäßig aktualisiert werden kann, schlägt den Verfassern einen Lebensrückblick mit sieben sogenannten Aufgaben vor, deren Lösungen nach den Forschungsergebnissen der Mediziner zu einem friedvollen Abschied beitragen. Ganz oben auf dieser Liste steht die Danksagung an jene Menschen, die dem Verfasser wichtig sind, gefolgt von Momenten im Leben, die man ganz besonders genossen hat.
An dritter Stelle folgt die Gelegenheit, sich bei jenen Lieben zu entschuldigen, die man verletzt hat. Denn viele Patienten bekümmere es ganz besonders, wenn sie in ihrem Leben Menschen, die ihnen wichtig waren, wehgetan haben, so die Projektverantwortlichen. Deshalb sei es ganz besonders wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um Vergebung zu bitten – aber auch sich selbst zu verzeihen. Und im Gegenzug jenen zu vergeben, die einen selbst verletzt haben – oder die einem etwas schuldig sind. „Diese Briefe sind auch eine Chance, sich vom Groll zu befreien“, erklärt Periyakoil und zitiert den Brief einer Patientin namens Shirley Jones, die darin an einen Harold schreibt: „Du hast vergessen, uns einige der privaten Kredite, die wir dir gegeben haben, zurückzuzahlen. Wir gleichen dein Konto hiermit aus.“ Raum für Dankbarkeit. Die fünfte Aufgabe schafft Raum dafür, Dankbarkeit für all die Liebe und Fürsorge auszudrücken, die man im Leben empfangen hat – um im sechsten Teil jene Liebe auszudrücken, die man empfunden hat. Was für manche im richtigen Leben eine ganz besonders schwierige Aufgabe war, bei deren Erfüllung der Brief nun helfen soll.
Ganz am Schluss steht die Aufforderung, sich einen Moment Zeit zu nehmen, um sich zu verabschieden – was sich in vielen Fällen als die schwierigste Aufgabe herausstellt, die daher auch durchaus aufgeschoben werden darf. Denn die Idee der „Dear Friends and Family Letters“richtet sich ausdrücklich auch an Menschen, die sich derzeit noch bester Gesund- heit erfreuen und sich gerade deshalb jetzt die Zeit nehmen wollen, dieses besondere Vermächtnis für ihre Angehörigen zu verfassen. Zu einem Zeitpunkt, bevor es ihnen aufgrund gesundheitlicher Probleme irgendwann nicht mehr möglich sein wird. Ein Brief im Testament. Natürlich fühlen sich viele beim Verfassen von Abschiedsworten doch unwohl. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass manche es aus Furcht, es könnte eine Art ,Self Fulfilling Prophecy‘ werden, nicht ausfüllen mögen“, so Periyakoil, deshalb rate sie ihren Patienten, nur die Abschnitte zu befüllen, mit denen sie sich wohlfühlen.
Am Schluss des Briefs steht die schwierigste Aufgabe – sich zu verabschieden.
Was mit dem Brief geschieht, wenn er geschrieben ist, entscheiden seine Verfasser ganz unterschiedlich. Manche geben ihn sofort an ihre Lieben, andere hinterlegen ihn an einem sicheren Ort oder deponieren ihn bei einem Vertrauten oder dem Testamentsverwalter, damit er nach ihrem Tod an die Hinterbliebenen übergeben werden kann. „Manche Patienten müssen ihren ganzen Mut zusammennehmen, um diesen Lebensrückblick zu schreiben. Bei manchen löst er tiefe und verstörende Emotionen aus“, weiß Periyakoil. „Aber trotzdem“, meint die Ärztin, „könnte dieser Brief der wichtigste sein, den man in seinem ganzen Leben schreibt.“